Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 19, S. 717

Die zwei Frauen des Bürgers von Brügge (Barrès, Maurice)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 19, S. 717

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Wiener Rundschau.


15. AUGUST 1897.


DIE ZWEI FRAUEN DES BÜRGERS VON BRÜGGE.
Von Maurice Barrés (Paris).
Autorisirte Uebersetzung von Nina Hoffmann.

Zur Zeit der Renaissance lebte in Brügge ein reicher Bürger,
welchen die grossen Festlichkeiten nicht zu zerstreuen vermochten, an
denen sich seine Mitbürger damit ergötzten, dass sie viel tranken und
Narrenpossen trieben. Er würde wohl am Bogenschiessen Lust gefunden
haben, denn seine Eigenliebe hätte sich geschmeichelt gefühlt, wäre er
zum Schützenkönig ausgerufen worden; allein er empfand kein wirkliches
Vergnügen daran, von den Brügger Gevatterinnen bewundert zu werden.
Er war auch ein wenig seiner Ehefrau überdrüssig geworden, obwohl
sie ihm treu und auch frisch war; aber ich habe ihr Bildnis gesehen —
eine kleine Memling voll kleinster Beachtung für Alles, was im bescheidenen
Bezirk eines regelmässigen Lebens fortkommt, und auf keine Weise in
den Leichtfertigkeiten und Ausbrüchen bewandert, welche es allein ver-
mocht hätten, diesen melancholischen Unbeschäftigten zu befriedigen.

In dieser Stimmung fasste er den Entschluss, nach dem heiligen
Lande zu pilgern. Es war zugleich, um erhabene Dinge zu vollbringen
und um sich zu zerstreuen.

Wir müssen immer etwas von unseren Träumen abgeben; der
Flamänder kam nicht über Italien hinaus, denn ein Weib, welches die
Schönheit dieses Landes an sich hatte und ihm dadurch unvergleichlich
erschien, hielt den mächtigen Kopf dieses Fremdlings an ihren weissen
Brüsten fest. Sie war die Geliebte Lorenzo’s von Medici und, während
einer Nacht, auch die des jungen Ric della Mirandola gewesen. Ich
habe ihre Porträts gesehen, welche sie später mit sich nach Flandern
brachte und die sich in Antwerpen in der Maison Plantin befinden.
Lorenzo von Medici ist dick und schmutzig wie ein Zeichenlehrer, und
der Mirandola hat das reinkalte Gesicht eines eleganten jungen Hebräers,
der linkisch und ein Verstandesmensch ist.

Von einer Hülle von Wohlgerüchen und Seidenstoffen umgeben,
las diese Chlorinde ihrem Geliebten den Ariost, dessen leichtflüssige

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 19, S. 717, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-19_n0717.html)