Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 18, S. 714

Croissant-Rust, »Der Bua« »Das Wiener Barreau«

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 18, S. 714

Text

NOTIZEN.

Anna Croissant-Rust. »Der
Bua.« Oberbayrisches Volksdrama
in vier Acten. Berlin, Schuster und
Loeffler, 1897.

Unter den Personen, neben denen
sich das Drama abspielt, lebt auch
Frau Johanna. Bleich und schlank,
eine Münchnerin, ist sie zur Som-
merfrische in dem bayrischen Dorfe.
Trotz der verstehenden Liebe, die
sie ihrer Umgebung schenkt, trotz
der nachsichtigen Freundlichkeit,
mit der sie sich die fremden
Menschen näher zu bringen sucht,
vermögen weder die frohen noch
die traurigen Vorgänge auf sie
mit ihrem ganzen Inhalte einzu-
wirken. Was den Bauern zum Er-
lebniss wird, dafür hat sie manch-
mal nur ein stilles Lächeln, und
wenn das Leben ihr Altäre baut,
empört sie die Gleichgiltigkeit der
werktäglichen Dorfleute. Es scheint,
dass Frau Johanna den Bauern nur
die Hand reichen kann, ihre Seelen
aber sich ewig fremd bleiben müssen.
Die gleiche Gegenwart leben sie ver-
schieden, da die Vergangenheit in
fremden Thälern schläft und die
Zukunft getrennte Wege ziehen
wird. Es ist eben nur Frau Jo-
hannas Landaufenthalt.

Und wenn nach lichten Sommer-
wochen Frau Johanna in ihre Stadt
zurückkehrt, und bei dem Dämmer-
schein der Stubenlampe die Er-
innerung sich gestalten will, dann
wird dem Gebilde der herbe Erd-
geruch, das dunkle Rauschen des
Waldes fehlen. Die Menschen werden
nicht sein, wie sie auf den Bergen

wohnen, ihr Schicksal nicht, wie
es über die Berge weht. Wie Er-
innerung wird es klingen, in milden,
verfliessenden Tönen, ohne die
Strenge und Farbe des Augenblicks,
ein Lächeln halb und halb ein
Träumen. — Anna Croissant-Rust
ist Frau Johanna. H. H.

Das Wiener Barreau.
Decamerone aus dem Gerichts-
saale. Wien, Moriz Perles. — Wer
jene geheimnissvollen Mächte, die
über Leben und Tod, über Glück
und Weh, über Ehre und Schmach
entscheiden, kennen lernen will —
er greife zu diesem Buche. Mit
einer feinen, ehrlichen Kunst hat
der anonyme Verfasser hier die
scheinbar Ragenden uns mensch-
lich, allzu menschlich nahe ge-
rückt, mit gutem Spott hat er
den Helden Panzer und Helm oft
indiscret gelüftet. Allein er höhnt
nicht nur, er weiss auch zu be-
wundern, bei aller Ironie vergisst
er an die Achtung nicht, auf die
Talent, Genie den Anspruch haben;
er opfert das Talent nicht einem
Witze. So ist er weniger Carica-
turist als scharfer, vollendeter
Zeichner, und diese Proben, in
denen er die Besten ihres Standes
(Präsident, Staatsanwalt, Verthei-
diger) mit Laune und Geschick
skizzirt, sie mögen davon lautes
Zeugniss geben. Von Hofrath v.
Holzinger heisst es: »Er hört
und sieht Alles, wenn er auch,
behaglich in den breiten Lehnstuhl
hingegossen, die Augen auf einige
Minuten geschlossen hält oder sie

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 18, S. 714, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-18_n0714.html)