Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 18, S. 713
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unermüdlich gesorgt hat. Dafür scheint man von den Curhausproduc-
tionen heuer gänzlich absehen zu wollen, wahrscheinlich, weil sie in
den letzten Jahren so wenig Anklang gefunden und besonders die Re-
citationen als Vorfälle aus dem Privatleben der Veranstalter sich der
Oeffentlichkeit entzogen haben. Auch die einst so beliebten Tanzkränzchen
und Reunions sind von der Bildfläche des Saisonlebens verschwunden,
und das Amusementbedürfniss der Curgäste bleibt eigentlich unbefriedigt.
Dass ein solches vorhanden ist, lässt sich nicht in Abrede stellen;
aus dem Umstande allein, dass so wenig Leute das hiesige Theater be-
suchen, kann man ersehen, wie viel Vergnügungssüchtige es in Ischl gibt.
Die Unveränderlichkeit der Ischler Einrichtungen, welche diesen
Curplatz um seine Internationalität gebracht und die Quantität wie
Qualität seiner Besucher allmälig verringert hat, erstreckt sich leider
nicht auf die Esplanade, die eine sehr entschiedene Veränderung zu
ihrem Nachtheile erfahren musste. Als ich sie heuer das erstemal
betrat, suchten mich die Curmusik, die noch immer Cavalleria rusticana
spielte, sowie der Umstand, dass ich nur unangenehme Leute traf, in
dem Glauben festzuhalten, es sei die alte Esplanade. Aber ein Meer
von Sonne war über ihr ausgegossen, und ich errieth sofort, dass ein
neuer Gärtner die alten Eschen ihres kostbaren Laubschmuckes beraubt
hatte: dem beständigen Vorwurf, dass in Ischl nichts geschehe, war
die Behörde in unnachahmlicher Weise begegnet. Vielleicht jedoch hatte
sie uns bloss die Fortsetzung der Ringstrasse abgewöhnen und uns ge-
waltsam bewegen wollen, die Natur dort aufzusuchen, wo sie noch
nicht von der Uncultur beleckt ist. Aber mit ihrem Schatten hat die
Esplanade nicht ihr Publicum verloren. Sie bietet nach wie vor die
vollständigste Uebersicht auf Leute, die man gerne übersieht, und hält
noch so Manchen in ihrem Banne, welcher sich in diesen Luftcurort zur
Erholung der in Wien Zurückgebliebenen begeben hat, und bei dem
man nur zweifelt, ob ihn das Klima wird vertragen können Trotz der
Verunstaltung ihres Terrains sind auch die sogenannten Esplanaderer
nicht ausgestorben, jene Curgäste, die schon vor Saisonbeginn unge-
duldig werden, weil sich noch immer nichts ereignen will, die ihr
Recht auf Scandal um jeden Preis geltend machen und nöthigenfalls
aus den unverfänglichsten Zufällen ihre Sensation holen; sie thun so,
als ob man ihnen vor ihrer Abreise nach Ischl mindestens ein Dutzend
Ehebrüche, die nunmehr fällig sind, garantirt hätte, und halten die
tägliche Beistellung von Pikanterien für eine der hauptsächlichsten
Pflichten der Curverwaltuug.
All dieser fashionable Eifer vermag über die Oedigkeit einer
Ischler Saison nicht hinwegzutäuschen. Der Laie, den der Ruf des
Weltcurortes gelockt hat, wird nach Erlag einer entsprechend hohen
Curtaxe vor der traurigen Wirklichkeit Reissaus nehmen. Wir geschulten
und durch langjährigen Sommeraufenthalt daselbst abgehärteten Cur-
gäste wundern uns höchstens noch, dass die Entbehrungen des Ischler
Saisonlebens so kostspielig sind.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 18, S. 713, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-18_n0713.html)