Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 18, S. 708
Die »Centenarfeier« des Grössten (Bleibtreu, Carl)
Text
Von Carl Bleibtreu (Wilmersdorf bei Berlin).
Die Menschheit — nicht Deutschland — wird den vor hundert
Jahren zur Rüste gehenden Herbst 1797 nur deshalb als geschicht-
lichen Wendepunkt im Auge behalten, weil damals der wahre Mann
des Jahrhunderts die erste Ernte seiner Thaten zur Scheuer brachte.
Der Friede von Campo Formio besiegelte den lange zweifelhaften Sieg
der Revolution — durch Bonaparte. Wie kurze Spanne verfloss, seit
er den letzten Odem ausstiess, »der gefangene Riese in Bewachung des
Oceans« (Victor Hugo), und schon scheint er sagenhafter Vergangen-
heit, einer Urzeit der Mythe, anzugehören, wo noch Lucifer und andere
Halbgötter mit Urmenschen auf Erden wandelten und Heerkönige wie
Odin als Götter zu den Sternen emporstiegen. Ungezogene Buben
werfen den Ocean mit Steinen, aber die schwarzen Steine des Philister-
Ostracismus verschwinden spurlos in der Tiefe, und die majestätische
Woge von Napoleons Leben und Schaffen rollt weiter von Strand zu
Strand. Das Problem des Genie-Kaisers wird nie, weder durch mittel-
alterliche Reactionsgelüste, noch durch anarchische Zukunftsmusik seine
Giltigkeit und Bedeutung verlieren.
Der Mann hiess Léon und war ein Löwe. In dem prächtigen
Königstiger, den Meister Taine uns vordressirt, vermögen wir ihn nicht
wiederzuerkennen. Dass dieser »Détracteur« mit gewohnter Kraft ver-
anschaulicht, wie das Napoleons-Gehirn sozusagen allen menschlichen
Grenzen entwachsen gewesen sei, vermag uns nur unvollkommen zu
trösten. Das famoseste Exemplar des Uebermenschen, als welches ja
auch der Zarathustra von Sils Maria das corsische Gehirnraubthier
anerkannte, würde uns durch geniale Bestialitäten und bestiale Geniali-
täten kaum für solche Verkümmerung des menschlichen Socialinstincts
entschädigen. Merkwürdig, dass aber die Besten seiner Zeit einen ganz
anderen Napoleon liebten, dass zahllose Gegenzeugen, sogar sonst
feindlich gesinnte, dem Taine’sehen Zerrbild widersprechen; kurz, dass
unsere eigene philosophische Ueberzeugung, man könne den Willen
(Charakter) nie vom Intellect trennen, und die Steigerung des intel-
lectuellen Vermögens erzeuge gleichmässige Steigerung der Gemüths-
kräfte, sich überraschend bewahrheitet, wenn man nur ehrlich und
gründlich Documente lesen will. An Ehrlichkeit wie an Gründlich-
keit fehlte es dem geistvollen Taine nicht minder wie den Lanfrey,
Charras und anderen deutschen Napoleon-Verleumdern, zu denen leider
auch Treitschke zählte. Diesen bedeutenden, aber einseitigen und schul-
meisterlich nüchternen Naturen gebrach durchaus der freie Blick, um
den kosmischen Geistesriesen zu überschauen. Sie alle kriechen wie
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 18, S. 708, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-18_n0708.html)