Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 18, S. 709
Die »Centenarfeier« des Grössten (Bleibtreu, Carl)
Text
Spinnen auf seinem Piedestal herum und kritisiren seine Kanonen-
stiefel. Das wäre zu verzeihen. Schlimmer steht es schon mit ihrem
mangelhaften Wissen und lückenhaften Studium, das besonders bei
Taine sich obendrein mit Unterschlagung und Fälschung historischer
Documente paart.*) Wie er in seinem grandiosen Pamphlet auf die
französische Revolution, das von Unwissenden als Laienbrevier an-
gestaunt wird, unverantwortlich die Reden Robespierre’s entstellt und
nur citirt, was ihm in seinen Kram passt, so hat er gleiche »wissen-
schaftliche Methode« — so nennt heute jeder Archiv-Maulwurf sein
oberflächliches Treiben — auf den Corsen angewendet. Doch wir wollen
hier nicht polemisiren, sondern nur einige beliebige Züge, wie der enge
Raum es gestattet, herausgreifen, freilich alles Dinge, die nur intimstem
Studium zugänglich und den bisherigen sogenannten Napoleon-Bio-
graphen unbekannt.
Also in diesem schrankenlosen Selbstling raste der Vernichtungs-
trieb gegen Alles, was ihm irgendwie im Wege stand; sogar seine
Cravatten und Röcke zerriss der Zuchtlose, wenn sie nicht Ordre pa-
rirten. Beobachten wir ihn folglich mal in einem Augenblick zürnender
Gereiztheit. 1897 erschien die Geschichte des 1. schlesischen Regiments,
das bei Etoges 1814 völlig zugrunde ging. Da erfahren wir, dass der
schwache Rest, ehe er die Waffen streckte, seine Fahnen vergrub. Nun
gilt das absichtliche Entziehen von Trophäen als ein nach Belieben
strafbarer Act, Napoleon aber musste damals in seinem Verzweiflungs-
kampf an Trophäen besonders gelegen sein. »Où sont vos drapeaux?«
herrschte er die Widerspenstigen an, und der einzig überlebende Officier
antwortete fest: »Wir wissen’s, doch sind keine Verräther.« Was hatte
er wohl vom Taine’schen Tiger zu gewärtigen? Der wüthete gewiss
nicht schlecht? Schade, die Diagnose irrt. Der historische Napoleon
nämlich lüftete respectvoll den Hut und befahl laut: »Qu’on traite
bien ces braves gens-là!« Der gemüthlose Mensch sass bekanntlich im
Mai 1813, als er die Verfolgung nach dem Bautzener Siege rastlos
betrieb, einen Tag lang in stummem Schmerz am Sterbebette Duroc’s,
gab keine Ordre mehr, sondern beschäftigte sich nur mit dem Grab-
denkmal des Freundes, zu dessen Pflege er dem nächsten Pfarrer
1200 Francs Rente aussetzte und dafür die Grabschrift befahl: »Hier
hauchte Duroc seinen Geist aus in den Armen seines Freundes.«
Sentimentale Heuchelei, nicht wahr? Nun aber fügt sich in den jüngst
herausgegebenen Memoiren des Rittmeisters Parquin, der als Guiden-
officier der Escorte dicht neben dem Kaiser stand, die bemerkens-
werthe Einzelheit ein: »In diesem Augenblick erstattete Oberst Gour-
geaud Bericht, dass die Bewegung Ney’s auf Görlitz glänzend reussirte.
Aber ohne ein Wort zu erwidern, drehte sich der Kaiser
um und stürzte unverzüglich über den Dorfplatz nach
*) Auch der deutschen Militärkreisen noch immer als Orakel über 1815
geltende Charras ist kürzlich einer geradezu unverschämten Fälschung überführt
worden, und längst haben Chesney, Ropes, Horsborough (»Waterloo« 1895) die
grobe Unwahrheit von Charras gewittert oder nachgewiesen.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 18, S. 709, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-18_n0709.html)