Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 18, S. 712
Text
Von Karl Kraus .
Alljährlich, wenn ich den Ischler Boden betrete, werde ich
staunend gewahr, wie viel sich wieder in diesem Curorte nicht ver-
ändert hat. Von einigen Geschäftsauslagen abgesehen, die doch alle
drei Jahre einmal neu arrangirt werden, vermeiden es die Ischler mit
Rücksicht auf den Gesundheitszustand der Curgäste, letztere besonderen
Ueberraschungen auszusetzen. Während sich andere Badeorte längst
die neuesten technischen Errungenschaften auf allen Gebieten zu Nutze
gemacht haben, sind unsere Ischler die alten Naturfreunde geblieben,
welche sich wohl hüten, die Schönheiten der Umgebung etwa durch
Anlegen von Steintrottoirs und Strassenübergängen zu verfälschen.
Auch die Beleuchtungsfrage wird hier noch immer auf die einfachste
und billigste Weise gelöst, indem die Ischler Gemeinde einen tadellos
functionirenden Mond besitzt, der an regenfreien Abenden sich besser
bewährt als das in den meisten anderen Badeorten eingeführte elektrische
Licht. Wiederholt haben neugierige Curgäste einen Einblick in die
Thätigkeit der hiesigen Behörden gewinnen und die Art und Weise
kennen lernen wollen, wie sich eigentlich Gemeindevertretung und Cur-
commission in ihren Wirkungskreis theilen. Wenn ich richtig informirt
bin, hat die Curcommission vornehmlich die Vernachlässigung der
Spazierwege übernommen. Sie ist es wohl auch, welche die in heissen
Zeiten so staubreichen Gassen des Ortes nicht aufspritzen lässt —
indess ist es möglich, dass diesen Zweig der öffentlichen Thätigkeit
die Gemeindevertretung für sich in Anspruch nimmt. Mag nun die
Staubansammlung dem Wirken einer löblichen Curverwaltung oder com-
munalem Fleisse zu danken sein, schliesslich besorgt der Regen die
Aufspritzung der Strassen, und man erkennt dann, dass die Einrich-
tungen unseres Badeortes bei einigem Entgegenkommen der Natur
durchaus den modernen Anforderungen entsprechen. — Ueber die Ver-
wendung der Curtaxe hat mir kürzlich eine massgebende Persönlich-
keit interessante Aufschlüsse ertheilt. Die Gelder, die aus der hohen
Besteuerung der Fremden fliessen, werden nämlich zur Herstellung der
Curliste benöthigt — ein Vorgang, dessen Logik auf die Thatsache
hinausläuft, dass man sich für Geld eine Empfangsbestätigung kaufen kann.
Die ungemein spannende Lectüre der Curliste ist nun auch so
ziemlich das einzige Amusement, das dem zerstreuungsbedürftigen Publi-
cum hierzulande geboten wird. Man war bereits der Verzweiflung
nahe, als das hiesige Wochenblatt auf den glücklichen Gedanken
kam, sich der Mitarbeiterschaft des Herrn Max Waldstein zu
versichern, eines Lyrikers, der heute vorwiegend als Elegiendichter
thätig ist, aber auch schon für die Heiterkeit früherer Generationen
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 18, S. 712, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-18_n0712.html)