Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 18, S. 711

Die »Centenarfeier« des Grössten (Bleibtreu, Carl)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 18, S. 711

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DIE »CENTENARFEIER« DES GRÖSSTEN. 711

Talleyrand in seinen Memoiren naiv: »J’aimais Napoleon«? Versichert
nicht selbst der fanatische, ihm abholde Republikaner Foy in seinen
freimüthigen Memoiren, man solle doch beileibe nicht Napoleon mit
anderen Despötchen verwechseln, der eine grosse und grossmüthige
Natur gewesen sei? Blieb der hochmüthige Soult, das einzige strate-
gische Talent unter den Marschällen, nicht bis zuletzt der ergebene
Anhänger des ihm wenig gewogenen Genies, und bildet die Corre-
spondenz dieser beiden grossen Männer 1814, wo Soult sich förmlich
für Napoleons Sache opferte und den letzten Schuss abfeuerte, nicht
ein erhebendes Denkmal männlicher Gesinnung? Beging der elende,
seichte Streber Berthier nicht aus Reue über seinen Abfall sofortigen
Selbstmord? Musste nicht Marmout todtenblass und schluchzend von
einem Diner aufbrechen, als mit dem Alles sagenden Ausdruck: »Er
ist todt« ein Gesandter mit der soeben eingetroffenen Kunde herein-
platzte, der Gefangene von St. Helena sei nun erlöst? (Note des Augen-
zeugen Lamartine zu seiner »Ode an Bonaparte«.) Flösste der Stief-
vater dem Vicekönig Eugen, dem Edelsten seiner Zeit, nicht eine so
ritterlich dankbare Sohnesliebe ein, dass er jede Lockung der Souve-
räne zurückwies, bis zuletzt mit seinem Meister blieb und ihm, zum
Testamentsvollstrecker ernannt, bald darauf nachstarb? (Auch dies zarte
Verhältniss hat Taine zu beschmutzen versucht, als ob der Sohn nur
als zitternder Sclave gedient habe.) Bekennt nicht selbst der giftige
Bourienne geradeso wie Menaval und Bausset in ihren Memoiren, dass
der cholerische Gestrenge ein gütiger Gebieter, wohlwollend und zu
Mitleid geneigt gewesen sei? Hat nicht Masson die Legende von Napoleons
brutalem Verhältniss zu den Frauen endgiltig zerstört, und strahlt nicht
sein treues Festhalten an der so minderwerthigen Josefine im Glanze
gemüthvoller Ritterlichkeit? Muss nicht selbst Talleyrand sein Erstaunen
über Napoleons unerhörte Geduld mit Murat’s »schwarzem Undank«
und den Chicanen seiner Brüder aussprechen? Man muss nur die
spanische Correspondenz mit Josef gelesen haben. Prinz Jerome hat
einen bisher unpublicirten Brief des Kaisers an Bruder Louis aufgedeckt,
worin dieser Widerspenstige aufs Rührendste daran erinnert wird, dass
einst Lieutenant Napoleon ihn von seiner elenden Gage genährt und
erzogen habe. Ja, ja, der grosse »Egoist«!

(Fortsetzung folgt.)


Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 18, S. 711, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-18_n0711.html)