Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 18, S. 703
Die skandinavische Literatur und ihre Tendenzen (Herzfeld, Marie)
Text
TENDENZEN.
Nach einem Vortrage, gehalten im Allgemeinen Oesterreichischen Frauenvereine
am 15. Mai 1897.)
Studie von Marie Herzfeld.
(Schluss.) VIII.
Alle Rechte vorbehalten.
»Je suis perdu dans le vagabondage, ne sachant où retrouver
l’unité de mon âme,» so charakterisirte Maurice Barrés die Zersplitte-
rung und Auflösung, die ein Merkmal des freien Geistes der zweiten
Hälfte des XIX. Jahrhunderts geworden war. Wir hatten nicht nur den
Zusammenhang mit der Welt von gestern verloren, unser Ich sogar war
in Momentexistenzen zerfallen, die kaum das Gedächtniss zu einer Tota-
lität aneinanderreihte. Unser Denken, Fühlen, Handeln war Stückwerk
geworden, und »Fortwurschteln« war die einzige Art, das Leben zu
leben. Nun aber scheint es, als wollte die moderne Seele die ver-
lorene Einheit wiederfinden und den festen Grund und Boden, in dem
sie fussen könne. Es weicht in den führenden Geistern die »Lebensangst«
und es wächst der ruhige Muth, sich dem Dasein aufs Gerathewohl
hinzugeben, »’s kann dir nix g’scheh’n«, sagte Anzengruber, wie im Evange-
lium Jesus zu den angstvollen Eltern sagte, die ihn verloren ge-
wähnt: »Warum suchtet ihr mich? wusstet ihr nicht, dass ich in dem
sein müsse, was meines Vaters ist?« Das Gefühl der Heimlosigkeit ist
im Schwinden, weil Alles eine grosse Zusammengehörigkeit ist, und der
Mensch sieht sich wieder und fester denn je mit der Welt verwachsen.
Er merkt mit verwundertem Glück, wie tief die Wurzeln seines Wesens
in den Urzeiten sitzen, und dass in ihm noch grüne Säfte hat, was
jemals in seinen Vorvätern lebendig war. Es kann ja nichts in der
Welt verloren gehen, und keine Bewegung vor Aeonen, die nicht bis
an aller Tage Ende weiterzitterte. Im Menschen selber ist ein Stück
Ewigkeit, das die Zeit den Zeiten überliefert, und durch seine Seele
fliesst die Unendlichkeit. Wozu da alles Bangen und Zittern? Ob Leben
oder Tod, er kann vom grünen Baum der Welt nicht fallen. Die Welt
aber hiess auf gothisch Verdandi; es ist die Werdende, die ewig
Werdende; tiefer kann nicht gesagt werden, was ihr Wesen ist. Man
muss alles Dasein nur ganz im Grossen nehmen, dann werden alle
Dissonanzen zu Musik, um so reicher und machtvoller, je mehr Irr-
klänge aufzulösen waren.
Zu dieser inneren Musik, in der die Anlagen und Triebe seines
ererbten Wesens und die erworbenen Einsichten seines Kopfes rein wohl-
lautend zusammenstimmen, ist ein Skandinave, ist Ola Hansson ange-
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 18, S. 703, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-18_n0703.html)