Faksimile

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 18, S. 696

Text

EINE BERLINER THEATERSAISON.
Von Fritz Engel (Berlin).

In grässlicher Oede liegen jetzt die Berliner Theater. Es ist todt,
Alles ist ganz todt. Es wird zwar an einigen Stellen noch ein bischen
gemimt, aber kein Mensch kehrt sich daran. Die meisten Häuser liegen
leer und verlassen da, lichtlos und menschenlos, Caricaturen ihrer
selbst. Wie mit Leichenaugen starren die Fenster, eine muffige Kühle
scheint herauszuströmen. Und wer in die Vestibule tritt, glaubt sich
von einer Mischwolke dumpfgewordener Gerüche umdünstet, und der
Wiederhall seiner einsamen Schritte gemahnt ihn wie ein ersterbendes
Echo an den Beifallslärm, der sonst von innen hier herausschallt.
O Kunst, o liebe Kunst Und hier in diesen Räumen, die nun wie
Todtenhäuser sind, haben wir zu dir gebetet! Es schien nichts Höheres,
nichts Heiligeres zu geben, als das bischen Theater, wenn wir hier
in Für und Wider uns erhitzten, wenn wir hier Ruhm gründeten und
zerstörten, wenn wir Götter schufen und entthronten

Und nun? Was blieb? Was wird bleiben? Sind die Gesichte,
die wir hatten, Erinnerungen geworden? Lösen sich die Gestalten aus
dem Dunkel der schlafenden Bühnenhäuser, die hier geschaffen wurden
und den Schlaf überdauern werden? Steigen wieder Scenen, steigen
wieder Abende auf, die wiederzugeniessen wir dürsten? Wie wenige!
Vielleicht nur ein Einziger. Aber freilich ist das in anderen Jahren
nicht besser gewesen, nur höchstens schlechter. Das Verhältniss von
Qualität zu Quantität, von Gewinn zu Umsatz ist in der theatralischen
Kunst höchst selten mehr als etwa 1 auf 500. Auf fünfhundert Stücke
eines, das noch nach Jahren den Kunstwanderer still stehen heisst, ist
es nicht Glück genug? Dieses eine kann eine neue Kunst, kann nach
vielen Missernten die Kunst überhaupt bedeuten. Es kann der eine
Gerechte sein, um dessentwillen allen Ungerechten vergeben sei. Die
wenigen Abende also, die sich im Düster der sommerstillen Theater
wieder in den Lichtschein unserer Erinnerung rücken, können uns
noch immer viel bedeuten. Die wenigen, vielleicht nur ein Einziger.

Und wirklich, es ist nur Einer. Uns Berlinern wenigstens be-
deutet Hauptmann’s »Versunkene Glocke« eine That. Nicht gerade
eine neue Kunst oder die Kunst überhaupt, von der ich eben schwärmte,
aber es strömt uns doch wieder, wie seit langer Zeit nicht mehr,
der Odem einer mächtigen Dichternatur entgegen. O wie haben
wir gescholten auf unsere liebe »Versunkene«! Wir nannten sie un-
dramatisch und unklar und was sonst noch. Wir sind hier nämlich
furchtbar darauf aus, nicht ein Tüpfelchen mehr zu bewundern, als

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 18, S. 696, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-18_n0696.html)