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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 18, S. 702

Text

702 ENGEL.

Aber er war dann, heilfroh, dass er aus dem »Residenztheater« heraus-
kam. Ein Herr Brandt, früher Schauspieler bei Lautenburg und zuletzt
kleiner Director in der Provinz, wird diese Bühne vom kommenden
Herbst ab übernehmen. Indessen hat der Concurrenzkampf, ergötzlich
zu sehen, schon längst begonnen. Der Angelpunkt des Streites ist:
Gehört das französische Genre, gehört die importirte Zote, die man
lieb haben muss, weil sie graciös ist, gehört sie Herrn Lautenburg
persönlich oder gehört sie dem »Residenztheater« local? Ein Salomo,
der das Rechte fände. Herr Brandt sagt: »Ohne Zote kein Residenz-
theater« und bereitet sich dort auf französische Stücke vor. Herr Lauten-
burg sagt: »Kein Lautenburg ohne Zote« und mühte sich den ganzen
Winter, die Liebhaber des Genres mählich aus dem »Residenz« in das
»Neue« zu bugsiren. Herr Lautenburg ist nämlich ein hervorragend
tüchtiger Geschäftsmann. Er hat sich auch einige literarische Verdienste
erworben. Er hat Ibsen begönnert, Strindberg aufgeführt, Halbe ent-
deckt. Und diesen Glanz weiss er frisch zu halten. Bei einem Jubiläum,
zu dem sich immer ein Anlass bietet, oder bei sonst jeder Gelegenheit
holt er einen Sonnenstrahl dieses Ruhmes aus der Requisitenkammer
und lässt ihn sich über das Haupt strahlen. Das leuchtet dann auch
noch ein Ende nach, wenn er nur und nichts als Geschäftsmann ist.
Wenn er z. B. »Trilby« gibt, sechzigmal, siebzigmal oder noch öfter.

Ja richtig, »Trilby«. Das ist doch noch etwas, das sich in die
theatralische Erinnerung eingesogen hat. Wir können es gar nicht mehr
ausschwitzen. Es haftet uns scheinbar für ewig an mit einem Duft, der
immer fader und widerlicher wird. Ein paar kleine Vorstadtbühnen und
Herr Sigmund Lautenburg haben hier zur gleichen Zeit das arme Opfer
des Svengali noch einmal zu Tode gehetzt. Es war eine »Trilby«-
Seuche, die in Hütte und Palast wüthete, die immer wieder aufflammte,
wenn man sie erstickt glaubte, die im nächsten Jahre vielleicht
Nein, man soll mit so grässlichen Dingen nicht Scherz treiben.

»Trilby« steigt also auf aus dem Flachland der vergangenen
Saison, »Trilby« und die »Versunkene Glocke«! Dorthin und dorthin
liefen die Leute, und in beide Stücke dieselben Leute, wie es immer
die gleichen sind, die ins Theater gehen. Kann man da Schlüsse
ziehen? Kann man da sagen, dies oder das war der Styl des Winters
1896/97? Ist die Kunst vorwärtsgegangen oder zurückgegangen? Hat
sich der Geschmack veredelt oder verlumpt?

So viel Fragen, so wenig Antworten. Die Sprache hat ganz Recht,
wenn sie nur das Wort Kunstfragen kennt.

Und da, während wir durch die dunkeln Vestibule schreiten, be-
kümmert und verwundert, dass die ganze Theaterei eine so spröde und
unfruchtbare Sache sei, und fest entschlossen, ihr nicht mehr so viel
Liebe und Interesse zu geben — da stellt sich schon eine neue Frage
zwingend vor uns Unheilbare hin: Und wie wird es im nächsten Winter
werden?


Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 18, S. 702, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-18_n0702.html)