Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 18, S. 701
Eine Berliner Theatersaison (Engel, Fritz)
Text
dazu in seinen moralischen Qualitäten von manchen Seiten angezwei-
felter Projectelhuber, und Bernhard Sehring, ein kühnphantastischer,
aber geschäftsunkundiger Mann, hatten den Bau mit tausend fremden
Geldern hingestellt. Ein Personal und ein Repertoire für alle Genres
wurde zusammengetrommelt. Es wird schon gehen, dachten sich die
Herren. Geht’s nicht so, dann geht’s so, wie’s trifft. Aber es ging nicht
so — und es ging nicht so. Ein Ensemble liess sich nicht heranbilden,
die besten Schauspieler schnappten ab, kein Stück schlug ein, die
Gläubiger drängten. Noch vor der eigentlichen Eröffnung wurde Blumen-
reich ausgemerzt, und Herr Witte-Wild, früher Director des Lobe-
Theaters in Breslau, der bis dahin nur artistischer Leiter gewesen war,
wurde Alleinherr. Aber es ging wieder nicht, weder so, noch so. Nun
wurde Witte-Wild abgeschafft, und Hofpaur (früher bei den Münchenern)
kam ans Ruder. Und wiederum, es ging nicht. Es war schon viel
genug, dass Hofpaur die äusserste Katastrophe aufzuhalten wusste und
das Schifflein noch vor dem schlimmsten Windstoss auf den Sand
brachte. Am Schluss der Saison bot das Theater ein Bild schreck-
licher Zerrüttung. Keine Stücke und keine Schauspieler mehr, dagegen
üherall Schulden und Verpflichtungen.
Und nun warf Herr Prasch vom »Berliner Theater« her seinen
Haken. Er zog die Westenbühne an sich, zuerst versuchsweise für ein
Jahr. Wir werden also wieder eine Doppeldirection haben, eine Per-
sonalunion zweier Theater in einer Hand. Wir haben damit schlechte
Erfahrungen gemacht. Aber Herr Prasch hat nun einmal das Vertrauen
des Publicums, er hat das Geld und den Eifer. Er findet dort draussen
auch Zuschauer, wie er sie braucht, lauter furchtbar gesittete Leute,
Officiers- und Beamtenfamilien und dergleichen. Er nennt das Haus
»Goethe-Theater«. Quod felix faustumque sit.
Zurück nach Berlin. Es bleibt nicht mehr viel übrig. Das
»Lessing-Theater« hat ganz und gar brach gelegen. Einsam, wie der
Fichtenbaum im Norden, hebt sich ein Gastspiel der Niemann-Rabe
daraus hervor, und vielleicht noch ein Besuch Antoine’s aus Paris.
Alles Andere ist spurlos dahingegangen, auch die darstellerischen Lei-
stungen, die weit von der Höhe früherer Jahre entfernt waren. Was
focht Oscar Blumenthal an? Er gibt sein Theater im Herbst 1898 an
Herrn Otto Neumann-Hofer ab — will er’s ihm erleichtern, ihn zu
übertreffen, oder will er umgekehrt seinem Nachfolger das Publicum
entfremden? Das Resultat dieser Saison macht an das Letztere glauben.
Blumenthalischer als Blumenthal fühlten wir es wie einen persönlichen
Schmerz, diese Bühne entarten zu sehen, die ein Theater der Lebenden
sein wollte und manchesmal auch war.
Es ist noch von Herrn Lautenburg zu reden. Er war einer von
jenen Doppeldirectoren, die sich am Doppelspiel die Finger ein wenig
verbrannten und schnell zurückpuschten. Seit Jahren Herr des »Residenz-
theaters«, hatte er dann noch das schöne »Neue Theater«, ein Schmuck-
kästchen in der lebhaften Friedrichstadt, mit einer ähnlichen Jugend-
geschichte wie das »Theater des Westens« als Schwesterbühne adoptirt.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 18, S. 701, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-18_n0701.html)