Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 18, S. 700
Eine Berliner Theatersaison (Engel, Fritz)
Text
werden die sogenannten nackten Lustspiele gegeben, die eben in das
»Berliner Theater« und nicht in das »Königliche Schauspielhaus« ge-
hören. Das einzigemal, wo Prasch mit grossartiger literarischer Maske
kam, fiel er ab. Es war, als er Wilbrandt’s religiöses Phantasma »Heiran«,
ein verschleiertes Jesus-Stück, aufführte.
Man kann nicht gut vom »Berliner Theater« sprechen, ohne an
das »Schiller-Theater« zu denken. Es ist im Grunde dasselbe. Es ist
gleichermassen Mittelstandsbühne mit einer kleinen Nuance tiefer in
das rein Spiessbürgerliche. Aber das soll diese Bühne auch sein. So
steht es, wenn schon mit anderen Worten, auf ihrem Programm, und
das macht sie in ihrer Art zu dem zweiten und letzten stylreinen
Theater der Reichshauptstadt. Seit drei Jahren, und das ist viel, hält
das »Schiller-Theater« daran fest, für überaus erniedrigte Preise drama-
tische Waare von reellster Beschaffenheit auszuverkaufen. Nicht ganz
nur nach idealsten Gesichtspunkten, wie seine Gönner wohl erwartet
hatten, aber erst recht nicht so simpel, wie seine Neider und Con-
currenten weissagten. Man sieht dort die grossen todten Meister und
auch von den Lebenden welche, die keine sind. Das Publicum des
Hauses ehrt die Todten, besucht aber noch lieber die Lebenden und
fangt die moderne Literaturgeschichte etwa bei Moser an. Andächtig
wie in der Kirche, so sitzt sie allabendlich im Parquet zusammen, die
Pränumerando-Abonnentenschaar, und liebt sich und bekrittelt sich
sanft, wie das in grossen Familien üblich. Am Buffet in der Zwischen-
pause erregt man sich ein wenig mehr. Da ist es enorm billig und
immer sehr voll. Eines nur hat sich in den Kinderjahren des »Schiller-
Theaters« geändert und auch dies noch zum Besten, nämlich die Dar-
stellung. Mit Fleiss und Energie hat man die Talentlosigkeiten ent-
wurzelt, auch wenn sie sich mit langen Contracten eingegraben hatten,
und hat brave Kräfte gesetzt. Das »Schiller-Theater« ist auch für den
gesunden Schauspieler-Mittelstand eingetreten, und mehr ist nicht seines
Amtes.
Aber auch noch nach einer anderen Seite spinnt sich der Faden
des »Berliner Theaters« weiter. Bis hinaus nach der Nachbarstadt Char-
lottenburg, wobei Niemand glauben darf, dass der Weg so ungeheuer-
lich weit ist. Im Gegentheil. Da, wo Berlin aufhört, um gleich weiter,
Haus bei Haus und noch immer von Berlinern bewohnt, Charlotten-
burg zu heissen, da »arti colendae hunc donum condidit Bernhard
Sehring« — da hat, wie am Giebel zu lesen, Bernhard Sehring zur
Pflege der Kunst das »Theater des Westens« gebaut. Offen gestanden,
wir sprechen hier nicht gern davon. Wir, die die Kunstpolizei mit Lob
und Tadel üben, waren geblendet von der Pracht und Formenschön-
heit des Hauses, geblendet von manchem funkelnden Künstlernamen,
und sind grausam enttäuscht worden. Wir haben mit dem Gedanken
gekost, ein neues Kunstorgan zu besitzen, und mussten uns die Nase
zuhalten vor dem Hauch des Unrathes, der aus den noch nicht kitt-
festen Fugen des Hauses flog. Die Vorgänge dieser Theatergründung
sind wohl bekannt. Herr Blumenreich, ein begabter aber unklarer, noch
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 18, S. 700, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-18_n0700.html)