Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 18, S. 699
Eine Berliner Theatersaison (Engel, Fritz)
Text
Dieser mehr politischen Auffassung der Kunst wird das Schau-
spielhaus untergeordnet. Und noch nach einer anderen Richtung gilt
das Sic volo, sic jubeo. Der Kaiser lacht gern. Es ist erquicklich, zu
sehen, wie dieser von Pflichten so ernster Art bedrängte und im Offi-
ciellen so strenge Mann sich dem Genüsse harmloser Freuden mit
wahrhaft kindlicher Heiterkeit hingeben kann. Er kann bei einem
Skowronnek’schen Jagdlustspiel das ganze Haus mit seiner Heiterkeit
anstecken. Es ist klar und es kann nicht anders sein, als dass die
Regisseure des Königs seinen Geschmack zu errathen suchen und Stücke
annehmen mehr aus diesen Gründen der Loyalität, als nach rein
ästhetischen Gesichtspunkten. Wir wollen es noch gerne anerkennen,
dass sie zwischendurch in das freie Gewässer reiner Kunst, der Kunst
an sich, zu steuern suchen. Dann entstehen, immer mit dem mächtigen
Adalbert Matkowski im Centrum, ein paar gute Schiller-Abende, ein
geistvoll reproducirtes Hebbel-Stück und dann eine classische Classiker-
vorstellung, wie von Shakespeare’s »Coriolan«, die der alternden Saison
noch einmal junges Blut durch die Adern gab. Jüngere Autoren mit
literarischem Anspruch kamen, wie aus all dem erhellt, nicht zu Worte.
Mir fällt nur Einer ein, Leo Ebermann mit der »Athenerin«. Von
Wien aus vielleicht ein bischen zu sehr gelobt, wurde er hier gewiss
zu sehr getadelt. Die ganze Grundverschiedenheit des Wiener und des
Berliner Kunstcharakters kam zu einem explosiven Ausbruch, Herr
Ebermann selbst hatte dabei den Schaden. Er glitt schnell vom Re-
pertoire.
Die Charlottenstrasse vom Schauspielhause ein Stück herauf, da
ist das »Berliner Theater«. Man hat es wortspielend hier das Volks-
und Erfolgstheater genannt, und weil es das Eine ist, darf man das
Andere ihm gönnen. Es ist fast das einzige Berliner Theater, das Styl
hat. Vielleicht einen banalen, aber einen Styl. Es macht kein Neuland
urbar in der Kunst, aber es erntet geschickt. Es hat Wildenbruch, den
Fehlerhaften, in allen Fehlern Interessanten, dem Schauspielhause auf
dem Halme abgenommen. Dorthin war »König Heinrich und sein Ge-
schlecht« zuständig. Aber man fürchtete den Zorn der Clericalen, wie
man ihn in Oesterreich fürchtete, wo das Stück sogar ganz verboten
wurde. Und nun liess Herr Prasch im »Berliner Theater« Wildenbruch’s
heissen Athem weit über hundertmal in ein dichtes und begeistertes
Parquet wehen. Was ist der gute Wildenbruch nicht gezaust worden
für die Schwäche und Oberflächlichkeit seiner Psychologie. Aber er ist
und bleibt doch unser einziger Volksdramatiker besseren Zuschnitts
mit der Fülle und dem Glänze seines dichterischen Organs. Er ist
das Incarnat dessen, was sich der gute Bürger unter Theater vorstellt,
er ist Spannung, er ist Coulisse, er ist betäubende Beredsamkeit, er
ist der ganze süsse Rausch, den der Mittelstand im Theater sucht.
Und theatralische Mittelstandspolitik, das ist eben der Styl des »Ber-
liner Theaters«. In einem runden Ensemble, dem erste Sterne fehlen,
dem aber auch die billige Talentlosigkeit ferne bleibt, werden die
Classiker aufgeführt, werden Anzengruber und Grillparzer gespielt,
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 18, S. 699, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-18_n0699.html)