Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 18, S. 698
Eine Berliner Theatersaison (Engel, Fritz)
Text
Stücke selbst bringen dann fast immer eine kleine oder eine grosse
Enttäuschung. Man geht ein wenig ärgerlich aus dem Theater, fast mit
einem persönlichen Schmerze. Man gesteht ein: Diesmal war es nichts
Besonderes. Aber man freut sich schon wieder auf das nächstemal.
Ein so netter Kerl ist der Fulda.
Mit seinem »Sohn des Khalifen« hatte es diese Bewandtniss.
Uebrigens war es ohne Zweifel noch eine literarische Sache. Und mit
der »Glocke«, mit »Morituri«, mit »Borkman« zusammen konnte es
Herrn Brahm den Ruhm bringen, das interessanteste und werthvollste
Theater der Saison geführt zu haben. Zudem das glücklichste Theater.
Denn Herr Kainz und Frau Sorma hatten niemals einen nennenswerthen
Schnupfen, und es ging Alles glatt, und der Leichtsinn, mit dem Herr
Brahm all sein Heil eigentlich nur auf diese beiden Köpfe stellt, wurde
nicht bestraft. Eine Erkältung der göttlichen Sorma — da sie ganz
menschlich radelt, kann es leicht dazu kommen — und ein höchst
minderwerthiges Rautendelein ruinirt das Cassenstück. Nur noch Herr
Hermann Müller, der ein sehr lebendiger Charakterisirer ist, und
Fräulein Else Lehmann, die die Rollen des Norafaches mit einer
mächtigen, wie mit Stichflammen aus den Worten hervorzüngelnden
Leidenschaft spielen kann — und das Künstlerverzeichniss der ersten
literarischen Bühne Berlins ist fertig. Nun nimmt uns Wien den Kainz.
Wir sagen zu jedem Wiener, den wir sprechen: »Der Kainz ist nichts:
für Wien. Zischen Sie ihn aus, aber tüchtig.« Und schon winden wir
in Gedanken die grosse Guirlande und kleben das rothe Placat darein.
»Gruss dem glücklich Zurückgekehrten«. Also bitte, zischen Sie ihn aus.
Er ist nichts für Wien.
Als braver Berliner Bürger müsste ich hier eigentlich schliessen.
Ich könnte sagen, das Gute, was die Saison gebracht, Alles, was vor
der Erinnerung noch Farbe und Klang behalten, ist aufgezählt. Doch
verdient es wohl noch das Mittelmässige, vom Schlechten unterschieden
zu werden. Es ist schwer zu sagen, wohin das »Königliche Schauspiel-
haus« zu rubriciren ist. Man liebt es um seiner Künstler willen, wegen
des vornehmen Tones, auf den seine meisten Vorstellungen abgestimmt
sind, wegen einiger classischer Darstellungen, die ihm vortrefflich ge-
langen. Aber dann ist es wieder so bekümmerlich, zu sehen, wie es
sich vor jedem Winde lebendiger Kunstgegenwart einschnürt in den
Panzer höfischer Tradition. Wen soll man dafür als verantwortlich in
Anspruch nehmen? Das Haus des Königs, wird es nach Königswort
verwaltet. Und unser König ist kunstfreudig und kunstfördernd, wenn
auch in ganz individueller Art. Er, der sorglich Wache hält, dass kein
Recht des Königs und kein Machtmittel angetastet werde, sieht auch
in der Kunst einen Hebel des Patriotismus. Gerne sieht er die Sonne
Hohenzollerns widerstrahlen aus prächtigen Bühnenbildern voll historischer
Treue. Gern sucht er in dem Vergangenen, das er auf die Bretter
stellen lässt, den Massstab für die Fortschritte, die seine Dynastie ge-
macht. Das Grosse, das erreicht wurde, sieht noch grösser aus, wenn
man das Kleine betrachtet, aus dem es entstand.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 18, S. 698, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-18_n0698.html)