Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 18, S. 704

Die skandinavische Literatur und ihre Tendenzen (Herzfeld, Marie)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 18, S. 704

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704 HERZFELD.

langt. Seine ganze Entwicklung ist wie organisch herausgewachsen aus
einem einzigen Ideenkeim, der ihm gleichsam angeboren war. In seinen
frühesten Gedichten, in seinen Notturnos findet sich schon in nebel-
haftem Umriss das anthropomorphische Sehen der Landschaft und die
vegetative Auffassung der Menschenerscheinung; nichts ist ihm unbe-
seelt und anorganisch, Alles ihm eine Variante des gleichen Lebens,
und dieses instinctive Gefühl der Zusammengehörigkeit, des Ver-
wachsenseins alles Irdischen und Ausserirdischen hat sich in ihm nur
durch Studium und Erfahrung langsam vertieft und erweitert. Sein
ganzes Denken und Dichten ist ein Spüren nach dem Zusammenhängen
der Naturerscheinung, die vorsichtige intuitive Ergänzung positiver
Forschungsresultate. Ihn interessirten von Anfang an die dunklen Er-
scheinungen des Seelenlebens, die der Verstand des Verständigen nicht
erklären kann, weil, ihre Wurzelfasern sich in den Tiefen des Unbe-
wussten verlieren. Während man in der Welt draussen um Zeitprobleme
stritt und litt, schilderte Ola Hansson in den »Sensitiva amorosa«
eine Reihe der subtilsten Vorgänge im affectiven Leben von Menschen,
deren Instinct durch Uebercultur bis ins Krankhafte verfeinert war;
er skizzirte in »Parias« Handlungen ohne zureichenden Grund, erzählte
von Spaltungen der Persönlichkeit, bedingt durch das Wachwerden
latenter Väterseelen oder durch Wesenshypertrophien, die vielleicht
missglückte Versuche der Natur zu neuen Artbildungen sind. Und seine
Polemik gegen den Tag setzte sich in psychophysiologische Bilder
vom Menschen um: gegen Nora und Svava stellte er seine »Alltags-
frauen« auf, ein Buch über verdorbene oder verkümmerte Instincte.
Jedoch in all diesen eigenthümlichen Arbeiten, die gegen die Zeit ge-
richtet waren und über der Zeit standen, sprach sich ein Mensch aus,
der an der Zeit sich todtwund gerieben, so dass sein Nervengeflecht
allen rauhen Lüften des Himmels blosslag und bei jedem Hauch, der
darüber hinstrich, in Schmerzen zuckte. Jede Berührung mit der Welt
verursachte ihm unerträgliche Qual. Die Disharmonien, von denen der
Alltag voll ist, verdichteten sich ihm zu drohenden Schatten, die alle
Wege des Daseins umlagerten und sperrten. Seine »Lebensangst« —
er hat das Wort gefunden — nahm riesenhafte Dimensionen an. Denn
er hatte die überreizte Sensibilität eines Geschlechtes, das seit zwei-
hundert Jahren auf gleicher Hufe gesessen und nur in die Verwandt-
schaft geheiratet hatte. Ola’s Vater war der erste Hansson, der die
Tradition gebrochen und ausserhalb der Familie seine Frau gesucht
hatte; auch waren seine Kinder die ersten, die von der Stange
brachen und studirten. Aber die säculare Gleichförmigkeit der Ge-
wohnheiten und die Summirung und Ueberentwicklung einzelner Eigen-
schaften als Resultat langer Binnenzucht muss die Anpassungsfähigkeit
vermindern. Ola Hansson empfand das fremde Seelenklima, in das ihn
das Studium versetzte, als Anomalie. Er kam sich vor wie ein heimlos
Gewordener. Er war unter Bauern nicht mehr zu Hause und auch unter
Städtern nicht. Er litt, weil er sich nirgends einfügen konnte. Und litt
umsomehr, als er kampflustig war und doch die Wunden nicht er-

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 18, S. 704, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-18_n0704.html)