Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 18, S. 705

Die skandinavische Literatur und ihre Tendenzen (Herzfeld, Marie)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 18, S. 705

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DIE SKANDINAVISCHE LITERATUR U. IHRE TENDENZEN. 705

tragen konnte, die die Gemeinheit der Gegner ihm schlug. Er liess
die Menschen und flüchtete in die Einsamkeit seiner Heimatnatur, als
deren Kind er sich empfand. Da erstand ihm von aussen ein Helfer.
Er lernte Nietzsche kennen. An Nietzsche begann sein Muth zu genesen.
Er fand in ihm die innere Aufrichtung, ein Beispiel und eine Aufgabe.
Denn Nietzsche hatte gewagt, zum Leben in seiner ganzen furchtbaren
unerbittlichen Grösse ja zu sagen. Er hatte dem Dasein eine neue
Deutung. gegeben; er hatte der Menschheit unermessliche Perspectiven
eröffnet. Und er hatte den Menschen befreit, nach rückwärts, nach
vorwärts. Indem er die Herkunft der Moralbegriffe untersuchte, hatte
er die alte Sündentafel zerschlagen, allein er hatte auch eine neue
Verantwortlichkeit geschaffen, denn »der Mensch ist ein Thier, das
versprechen kann«; er weiss, was er meiden soll und er zu wollen
vermag. Und so verpflichtete er den Menschen auf die Zukunft. Grosse
Menschentypen hervorzubringen, das sollte seine Aufgabe sein. Nicht
Glück und Leidlosigkeit, sondern die langsamen Erhöhungen des
Wesens durch das Leiden, das überwunden werden muss; so lautete
das neue Programm. Es befreite Ola Hansson von der Ueberwuche-
rung der krankhaften Wehleidigkeit für sich und Andere; es gab ihm
das Recht, zu leben, ja, die Pflicht, das Beste aus sich herauszuleben.
Aber Nietzsche, das war ein sehr fernes Ziel; wer ihm unbedingt
folgte, überkletterte sich, wie es Nietzsche selbst gethan. Anders
Hansson. Er hatte genug von fremden Systemen und Erkenntnissen.
Er wollte im Eigenen stehen, die Erde unter seinen Füssen spüren,
die Erde, die mit so mächtigen Stimmen in ihm sprach. In der Per-
sönlichkeit, also in der organischen Neubildung, die er war, wurde
das Uralte wach, das Gemeinsame und Ererbte: der Bauer wurde in
ihm wach und der Germane: drum verstand er das Buch »Rembrandt
als Erzieher« so gut. Und nun gestaltete er seine Idealwelt aus, die
persönlich war und doch racenbedingt, eine aristokratische und zu-
gleich volksthümliche Welt. Nicht dem Bourgeois, aber auch nicht dem
Proletarier, sondern dem Bauer musste die Zukunft gehören. Es galt
nur, ihn für seine Aufgabe zu erziehen, damit er, wenn sein Tag kam,
nicht bloss den Boden, sondern auch sich selbst besitze und fähig sei,
ein Culturbildner zu werden; man musste ihn lehren, die Natur in
sich walten zu lassen, wie sie über ihm waltet, damit die Cultur, die er
erschuf, keine aus Theorien stammende, wurzel-und saftlose Verstandescultur
werde, die die nächste Welle aus den Volkstiefen wegschwemmt,
sondern eine Cultur, gespeist aus den reichsten Kraftquellen der
Menschheit, die aus dem Heimatsgefühl und dem Raceninstincte
fliessen So schmiegte Ola Hansson sich immer fester und inniger dem
Stück Erde an die Brust, dem er entsprossen war. Und je stärker er
sich in seinem ganzen Wesen mit dieser mütterlichen Erde identificirte
und je mehr in ihm lebendig wurde, was eine vieltausendjährige Evo-
lutionsgeschichte im Menschen aufgespeichert und abgelagert hat, desto
stiller wurde er in sich, desto träumerischer in die Natur versenkt,
desto mehr näherte er sich der inneren Ruhe voll productiver Wärme,

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 18, S. 705, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-18_n0705.html)