Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 18, S. 706
Die skandinavische Literatur und ihre Tendenzen (Herzfeld, Marie)
Text
der »Vitalitätsruhe«, wie er es nennt, die er an Böcklin bewundert.
Davon geben seine Werke in den letzten Jahren Zeugniss. Bald schildert
er, was er erlebt und gesehen, in Gestalten, die sich weich und doch
scharf vom Himmel seiner Heimat abheben, bald lauscht er wieder den
tiefen und rein gestimmten Liedern, die das Leben in seiner Seele
spielt. Und immer handelt es sich um Jugend, Entwicklung, so wie er
auch die ahnungsreichen Jahreszeiten liebt: den Vorfrühling des
Knospens, den Mittsommer des Reifens, den Spätherbst in allen Tönen
der Vergänglichkeit; nur der todte, kalte Winter sagt ihm nichts. Er
hat in seinen Erzählungen »Vor der Ehe«, »Heimreise«, »Ein Erzieher«
culturelle und künstlerische Bilder von hohem Werth geschaffen; er hat in
»Esther Bruce«, in »Meeresvögel«, in »Im Huldrebraun« Erotik in allen Ver-
zweigungen von den feinsten und individualisirtesten seelischen Nuancen
bis zum gespenstischen Vampyrismus geschildert; er hat im »Punkt des
Archimedes« und in »Ueber den Tod« Geschichten geschrieben, in
denen nichts geschieht, die nur ein Umsetzen äusserer Bilder in innere
Stimmungen sind, aus denen sich die Symbole des Lebens krystallisiren.
Seine errathende Psychologie hat mehr Wissenschaft um die Natur,
als die irgend eines modernen Dichters; er hat neue Dinge aus der
Seele geholt und eine neue persönliche Form seiner Kunst gefunden.
Er ist als Sprachvirtuos von Jacobsen ausgegangen und über Jacobsen
hinausgegangen; er hat sich für das, was er Intimes zu sagen hatte,
eine neue Sprache suchen müssen. Allein es hat in unserer Zeit viel-
leicht schon reichere, mannigfaltigere und temperamentvollere Dichter
gegeben als Ola Hansson, wirkungsvollere Dichter und grössere
Künstler. Nur das, was Ola Hansson aus sich gemacht hat, wie er den
unfruchtbaren Kriticismus unserer Tage überwand, wie er auf Ver-
gangenes zurückging, um mehr zu umspannen, wie er sein Inneres
aufbaute, bis es eine ganze Welt ward und die ganze Welt in sich
fassen konnte, das wird über unsere Zeit hinaus vorbildlich bleiben.
Ola Hansson gehört zu den seltenen Geistern, in denen die moderne
Seele ihre Einheit wieder gefunden.
Andere Dichter unserer Tage sind nicht so reif, aber sie Alle
hat der Zug der Zeit erfasst, der zum Selbstherrlichen des Subjecti-
vismus führt. Nicht Alle üben diesen Subjectivismus so aristokratisch
vornehm wie es J. P. Jacobsen gekonnt; aber sogar ein Schilderer des
Klotzigen, des Lächerlichen, des Dummen, des Niedrigen, ein Ratio-
nalist wie der junge Däne Gustav Wied waltet souverän mit seinem
Stoff, wenngleich der blumenumwundene Scepter der Phantasie bei ihm
hie und da bedenklich an die Narrenpritsche mahnt. Der Subjectivste
der Subjectiven ist wohl der berühmte dänische Lyriker Holger Drach-
mann. Er sieht allerdings die Welt nicht unter dem Gesichtswinkel
der Ewigkeit; er ist das Kind einer Zeit, deren Merkmal »das Suchen,
Hasten, Standpunktwechseln nicht ein Abschluss, eine Total-
anschauung, ein Ausruhen« war, und er ist überdies eine Vaganten-
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 18, S. 706, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-18_n0706.html)