Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 18, S. 707

Die skandinavische Literatur und ihre Tendenzen (Herzfeld, Marie)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 18, S. 707

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DIE SKANDINAVISCHE LITERATUR U. IHRE TENDENZEN. 707

natur, beweglich wie die Welle im Meer und der Sand auf der Düne:
er hat als Künstler nichts gewollt, als dieser Natur Ausdruck leihen.
Darüber sind Bände auf Bände entstanden, Vers und Prosa, Alles Be-
kenntnissbücher eines modernen Dichters, der allmälig zur Ueber-
zeugung kommt, nichts sei wahr und verbürgt und unanzweifelbar als
die Erlebnisse des Gemüthes, der einzige süsse Gehalt des Daseins sei
die Stimmungslyrik des Momentes, die einzige Weisheit das Auskosten
der Secunde bis auf den Grund, auf dass diese Secunde eine lange
starke Spur hinterlasse, die dem Erlebniss Wirklichkeit und den Schein
von Dauer leiht. Und es ist ihm gelungen, die Essenz seines Wesens,
seiner Zeit, seiner Stadt, seines Volkes in den Roman »Verschrieben«
zu pressen, in ein Buch, das in der erdumspannenden Fülle des In-
haltes, in der geheimnissvollen Tiefe der Charaktere, in der phantasti-
schen Stimmung, die es umschwebt und in der innigen Herzenswahr-
heit manches Wortes in der That das Märchenbuch des dänischen Ge-
müthes worden ist.

Drachmann hat mit diesem Versuch, den epischen Romanstyl in
Lyrismus aufzulösen, den Anstoss gegeben zu einer Menge ähnlicher
Werke — vielleicht auch zur Form von Garborg’s »Müde Seelen« und
»Kolbotnbriefe«. Diese Form, bei der die Welt der Dinge gleichsam
wegfallen kann und Seele zu Seele spricht, innig, tief und schlicht, hat
Sigbjörn Obstfelder in seiner ergreifenden Erzählung »Das Kreuz«
verwendet. Die Worte sind drin sparsam und wie mit Bedacht gesetzt,
aber es ist, als läge in jedem eine Welt von Schmerz. Es ist eine
geradezu russische Innigkeit und Weiche in diesem Buch und so viel
Grösse des Styles, dass man meint, es enthalte alles Leid, das der
Mensch je erlitten, und alles Leid, das er jemals überwunden hat.
So viel Tiefe hat Obstfelder einem persönlichen Schicksal gegeben;
wir glauben Alle, das unsere mitzuerleben und dann zur Ruhe zu
kommen wie sein Held. Diese Ruhe ist die Nirwanaruhe, die Ruhe
des Ueberwundenhabens, wie sie Thomas Krag in seinen Werken
zum Zielpunkt nimmt — ein Fertigsein, nichts mehr Verlangen, nichts
mehr Wollen — Quietismus. Eigentlich der Gegenpol jener activen
Ruhe, der behaglichen Wachsthumruhe, die Ola Hansson als sein Ideal
gezeichnet hat.

Eine grössere Stosskraft hat der Schwede Per Hallström in
seinem Wesen. Er ist ein Meister der kleinen Formen, Seher und
Künstler zugleich, Momentzeichner mit tiefen Perspectiven rings um
seine Grotesken, einer, der in der Secunde die Schauer der Unend-
lichkeit abgewinnen kann. Kein Stoff ist bei ihm platt und niedrig,
vor Allem Leben steht gross und unergründlich das schwarze Dunkel,
in dem das Schicksal harrt.

Und sonst noch Dichter aller Art, schönheitshungrige Leute, die
wie Gustaf Fröding, Selma Lagerlöf, Vilhelm Krag, Werner von
Heidenstam, Sophus Michaëlis einen farbenfunkelnden Regenbogen
aus allen Zeiten und Culturen auf die graue Wolkenwand des Alltags
zaubern.


Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 18, S. 707, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-18_n0707.html)