Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 18, S. 710

Die »Centenarfeier« des Grössten (Bleibtreu, Carl)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 18, S. 710

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710 BLEIBTREU.

dem Pfarrhause an Duroc’s Bett.« Also ein wichtiger strategi-
scher Vorgang interessirt ihn nicht im geringsten, er hört kaum hin,
sein ganzes Denken gilt dem sterbenden Freunde. Als ein anderer
intimster Herzensfreund, Marmont, den Octavio Piccolomini spielte, be-
grüsste der »grosse Römer«, der »kein grosser Mensch« sein wollte,
wie die demokratische Legende aus Johannes Scherr trompetet, dies
Heldenstück nichtswürdigsten Verraths mit dem weniger antiken als
christlichen Seufzer: »L’ingrat! Il sera plus malheureux que
moi
!« Etwas Altruistischeres im Mitgefühl für den Mörder, der ihm
langsam den Dolch im Leibe umdreht, als diese grossartige Würde
cäsarischen Seelenleids, ist seit den mythischen Christusworten am
Kreuze nicht bekannt geworden. Aber Herr Taine weiss ja natürlich
nichts davon; er hat die übereinstimmenden Berichte des Lieutenant
Magnien und zweier Anderer, die nacheinander den Verrath Marmont’s
dem ungläubig ablehnenden Cäsar rapportirten, nie gelesen. Und das
nennt sich Napoleon-Forscher.

Allerdings, derselbe »Römer« begleitete das Wettkriechen seiner
Marschälle und den Huldigungsrummel vor den neuen bourbonischen
Vorgesetzten nur mit der lakonischen Geste: »Voilà les hommes!« Er
entdeckte den mit Recht so beliebten Nützlichkeitspatrioten sein schwarzes
Herz in dem classischen Hohnschrei: »Wenn man mir vorwarf, dass
ich die Menschen verachte, so wird man jetzt wohl zugeben, dass ich
Grund dazu hatte.« Er bekannte ehrlich: »Ich habe die Menschen stets
verachtet und sie stets behandelt, wie sie’s verdienen.« Aber
er wusste nicht Rühmens genug zu finden, wo er ausnahmsweise auf
anständige Menschen stiess. Er gerieth in feierliche Rührung, wenn er
auf seinen grossen Artilleriegeneral zu sprechen kam: »Drouot, c’est la
vertu!« Nun wohl, dieser erlauchte Held, zugleich »der beste Kopf und
das beste Herz«, der jede Dotation Napoleons ausschlug und
ihm oft derb seine Meinung sagte, zog nach Elba mit in die Ver-
bannung, und der Schmerz nagte an ihm, dass er nicht nach St. Helena
folgen durfte. Von der ganzen Nation verehrt, von den Bourbons
schmeichlerisch ausgezeichnet, in seiner Vaterstadt Nancy beim Be-
gräbniss vom Maire als Mustermensch und von Pater Lacordaire als
Vorbild eines Christen gefeiert, blieb er bis zur letzten Stunde noch als
Greis ein treuer Dolmetsch des Napoleon-Cultus. Er, der es am besten
wissen musste, ermahnte die jüngere Generation nie zu vergessen, dass
der Imperator wohl den Ruhm geliebt habe, doch noch viel mehr sein
Frankreich. (Bekanntlich spricht Taine nebst sauberer Gefolgschaft dem
Corsen jedes sociale und patriotische Empfinden ab.) Dieser Drouot,
der sein Leben lang fast sein ganzes Einkommen geheimer Wohlthätig-
keit widmete, arm wie er war, der im Schlachtendonner stets eine
kleine Bibel in der Tasche trug und aus Frömmigkeit seine sanfte
kaltblütige Todesverachtung sog, nährte stille Begeisterung für den
»Tyrannen«, dem er noch zuletzt bei Waterloo im Viereck Cambronne’s
zur Seite stand. Schlägt dies eine document humain nicht die ganze
Anti-Napoleon-Legende zu Boden? Aber gesteht nicht sogar Erzschuft

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 18, S. 710, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-18_n0710.html)