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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 18, S. 715

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NOTIZEN. 715

auf der reich cassettirten Decke
des Saales spazieren führt. Seine
Hand ist immer thätig. Entweder
wandert ein Actenstück oder die
Schnur, welche den Act zusammen-
hält, zumindest der Bleistift durch
die Finger. Am liebsten ist ihm
ein corpus delicti, das der Hofrath
förmlich zärtlich behandelt «
Und vom ersten Staatsanwalt Dr.
Bogumil Girtler v. Kleeborn:
»Er tritt vor das Gericht. Breit
und behäbig, die Hände in den
Hosentaschen. Nichts entgeht ihm.
Er hält sich anfangs in der Re-
serve. Aber je weiter sich das
Processbild entrollt, desto schärfer
tritt Ritter v. Kleeborn persönlich
in die Schranken. Was nicht klappt,
wird mit löblicher Beschränkung
fallen gelassen, wo aber die An-
klage aufrecht bleibt, da findet sie
an dem ersten Staatsanwalt einen
zähen und furchtbaren Verfechter.«
Endlich von Dr. Friedrich El-
bogen: »Die ersten Sporen hat
er als blutiger Socialistenverthei-
diger erworben. Er will auch noch
heute gern als Politiker ein ernstes
Wort sprechen und gehört zu den
Unzufriedensten der Unzufriedenen.
Freilich hat er seitdem viel Wasser
in seinen radicalen Rothwein ge-
gossen. Aber eine frische Schnei-
digkeit ist ihm geblieben, und
noch immer ist er der Rufer im
Streit, wenn etwa ein zu scharfer
Präsident die Rechte der Ver-
theidigung ihm unbehaglich ein-
engt Den hohen Juristen ist
er zu wenig gelehrt, er erlaubt
sich, originell zu sein. Er schwingt
sich, statt über die dürre Haide
der nüchternen Satzschrift zu
wandeln, auf den Pegasus und
reitet ins blühende Land der Ro-
mantik! Furchtbar! Unver-

zeihlich! Entsetzlich! Aber er
packt, er wirkt, er siegt, und er
ist einer der gesuchtesten und heute
vielleicht der erfolgreichste Ver-
theidiger in Strafsachen.« L. L.

Unsere Kunstkritik. Der
Humor, meinen die Leute, sei aus-
gestorben; aber das ist Verleum-
dung. Freilich nicht mehr wie eh-
mals gedeiht er in Rabelaisischer
Schrankenlosigkeit, und längst ist
das Lachen der grossen Satyre
verhallt. Aber die Götter haben
ein zähes Leben, und wenn sie alt
werden, wechseln sie nur die Ge-
stalt. Auch der Humor ist noch
immer latent vorhanden, und in
seltsamen Verkleidungen streicht er
durch die Welt, hauptsächlich durch
die, in der man Politik oder Lite-
ratur macht. Aber am liebsten zieht
er sich in die Kunstausstellungen
zurück, hier ist sein eigenstes Ge-
biet, und ernsthaft sehen wir ihn
dort vor den grossen Gemälden
stehen und Notizen machen; und
wir wissen dann, dass wir am
nächsten Tag eine heitere Stunde
haben werden. In Berlin z. B. lebt
ein solcher Humorist, Herr A. v.
Werner; den Stiefelmaler nennen
sie ihn, dieweil er es für seine
Mission hält, den Glanz gutge-
wichster preussischer Cavallerie-
stiefel der Nachwelt zu erhalten.
Dieser Brave nun hegt grimmigen
Groll allen denen, die besser malen
als er; so sah er sich jüngst ver-
anlasst, den Schülern der Berliner
Kunstakademie eine ergötzliche
Rede zu halten, in der er die
Meister der neuen deutschen Ma-
lerei endgiltig vernichtet hat. Er
gehört zu jenen, deren Gebelfer
uns nach Goethe beweist, dass wir
reiten; möge er uns noch oftmals
erheitern und zum Lohne dafür

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 18, S. 715, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-18_n0715.html)