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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 18, S. 677

Text

Wiener Rundschau.


1. AUGUST 1897.


TANTE SEVERINE.
Von Neera.
Einzig autorisirte Uebersetzung von Wilhelm Thal.

Um in ihr Zimmer zu gelangen, musste Tante Severine die Thüre
mit dem Fusse aufstossen, denn ihre beiden Hände hatten vollauf zu
thun, um den Leuchter und die Geschenke zu halten, die sie empfangen
hatte. Als ihr Bruder ihr das wollene, melangefarbene Kleid überreichte,
hatte er seinem Geschenk folgenden Commentar beigegeben: »Eine
ernste und solide Farbe, die sich für dein Alter ziemt.« Ihre Schwägerin
hatte ihr eine Nachtlampe verehrt, und ihre Nichte hatte ihr in der
Handarbeitschule einen Fusswärmer gestickt. Das Alles zur Feier ihres
Geburtstages.

Doch das Gesicht der Tante Severine drückte keinerlei Freude
aus, als sie diese Gegenstände auf den Tisch ihres Zimmers stellte, im
Gegentheil, es lag darauf ein ziemlich dichter Schleier der Undurch-
dringlichkeit, der zum Theil die bitteren Worte rechtfertigte, mit denen
ihre Schwägerin ihr Verschwinden aus dem Salon begleitet hatte:

»Man mag thun, was man will, Severine ist nie zufrieden!«

Eine Karte war ihr aus den Händen geglitten, die auch zu ihrem
Geburtstag gekommen war; eine liebe Jugendfreundin hatte sie ge-
schickt; auf einem grünlichen Hintergrunde flatterte ein Schmetterling
mit der Devise: »Adhuc spero« und auf der Rückseite »Tausend Glück-
wünsche«.

Severine hob diese Karte auf und begann sie nachdrücklich beim
Scheine einer Kerze zu betrachten. Wie vielerlei rief sie in ihr wach.
Vor 25 Jahren hatte ihr dieselbe Freundin bei derselben Gelegenheit
ein Sträusschen rother Nelken ins Haar gesteckt! Heute würde man
ihr keine Blumen mehr ins Haar stecken; heute waren die kaffeefarbenen
Kleider gerade gut genug, und auch die Nachtlampe, die Fusswärmer
gar nicht gerechnet, denn sie litt ja an Reissen in den Beinen.

Severine war nicht undankbar. Sie erkannte ihres Bruders Güte
an, sie liebte ihre Schwägerin und ihre Nichten, sie war liebevoll,

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 18, S. 677, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-18_n0677.html)