Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 18, S. 678
Text
sanfter als sie konnte, nicht wie sie wollte, denn sie fühlte in sich
eine Zärtlichkeit, die sich nie entfesseln würde. Diese Zärtlichkeit war
ihr Leiden, der im Hause verborgene Feind, der Wurm, der ihr an
den Knochen nagte, der unterdrückte Vulcan, der ihr ins Antlitz rothe
Flammen jagte.
Als Kind war sie sehr lebhaft gewesen, als junges Mädchen
sehr phantastisch; schön war sie nie, auch nicht umschwärmt, und
doch hatte sie sich in einer bestimmten Idealwelt, die sie mit Träumen
bevölkerte, fast glücklich gefühlt. Tochter eines Malers, hatte sie von
Anbeginn den Zauber der Farben und Linien kennen gelernt. Instinctiv
Heidin, fühlte sie sich zur Schönheit hingezogen, während die mystischen
Gedanken und die nebelhafte Poesie sie gleichgütig liessen.
Sie liebte es, sich in Peplums und Schleier zu hüllen, die die
Modelle im Atelier ihres Vaters vergessen hatten. Sie zerzauste sich
die Haare, setzte sich eine Blätterkrone auf den Kopf und spielte die
Bacchantin. Auf einem Berg von Kissen ausgestreckt, einen Shawl um
die Hüften gewickelt, mit nackten Armen, ein Collier aus Glasperlen
um den Hals, einen grossen Fächer in der Hand, verkörperte sie die
Odalisken. Im Hemd an der Erde kauernd, ein grosses Buch auf den
Knien, versuchte sie die »büssende Magdalena« des Correggio darzu-
stellen. Doch im letzten Augenblick bemerkte sie, dass es ihr an den
Hauptattributen der Gestalt fehlte, und nun begann sie ein Kummer
zu quälen, der fein wie eine Dolchspitze war.
Wenn sie sich mit den Gestalten verglich, die die grössten Maler
idealisirt, und die die Maler zweiten Ranges zu copiren sich bemühten,
so erkannte sie deutlich die Unvollkommenheit ihrer Formen, und das
war für sie, die einen so glühenden Durst nach dem Schönen fühlte,
eine grausame Enttäuschung.
Um ihre eigene Magerkeit so viel wie möglich einem künst-
lerischen Typus zu nähern, verzichtete sie auf die üppigen Schöpfungen
eines Tizian und begann die schlanken Frauen Canovas zu verehren,
die »Grazien«, die »Psyche«, namentlich die Letztere, die sie mit
wahrem Entzücken erfüllte. Das Gefühl der Kunst und das der Liebe,
die jungfräuliche Reinheit und die Gluth der Sinne, die harmonische,
göttliche Verschmelzung alles dessen in dieser einen unsterblichen Gruppe
zogen sie unwiderstehlich an. Sie war so einfach, die Pose dieser Psyche,
ihre Formen waren so nüchtern! In ihrem Kämmerchen, allen Augen
verborgen, in Abwesenheit Amors, wollte Severine auch diese Figur
verkörpern. Sie war nicht hässlich, sie war jung, begriff die Grazie,
hatte die Eingebung der Leidenschaft und schwärmte für die Kunst.
Warum gelang es ihr nicht? Weil Severine, das lebende Geschöpf, vor
einem Spiegel neben der Göttin des Marmors wie ein Krüppel er-
schien.
Wenn ich nur stärker werden könnte! dachte sie. Vielleicht hängt
Alles nur von einer Linie ab! Hätte Jemand Canova’s Arm angestossen,
als er die Büste der Psyche schuf, er hätte die Linie nicht umgestaltet,
und es wäre nicht mehr Psyche.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 18, S. 678, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-18_n0678.html)