Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 17, S. 672

Die Umwerthung des Schuldbegriffes (Dix, Arthur)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 17, S. 672

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DIE UMWERTHUNG DES SCHULDBEGRIFFES.
Von Arthur Dix (Kölln).

Es ist nachgerade ein Gemeinplatz, dass in den letzten Jahrzehnten
eine grosse Umwerthung der moralischen Werthe theils sich vollzogen,
theils begonnen hat. Die alten Formeln sind ausgeschaltet, den alten
Worten ist ein neuer Begriff gegeben. Das Ringen nach psychologischer
Erkenntniss hat zu grossen Revolutionen im Reiche der moralischen
Werthungen geführt.

Wie der naive Mensch schwarz und weiss als zwei absolut ent-
gegengesetzte Grundfarben auffasst und der Gelehrte sie ihm lediglich
als Lichterscheinungen offenbart, nicht aus sich selbst als etwas Eigenes
bestehend, sondern erzeugt von der Menge oder dem Mangel des Lichtes,
durch alle Stufen des Grau ineinander übergehend, so zerstört der
Ethiker dem naiven Menschen die festen, absolut entgegengesetzten
Grundbegriffe gut und böse und lässt sie gleichfalls von aussen her,
durch fremde Ursachen gebildet werden und sich mannigfach gegen
einander verschieben.

Es ist wohl zu beachten, dass die Umwerthung der moralischen
Werthe der Hauptsache nach nicht in der grauen Theorie, in der
philosophischen Speculation ihre Grundlage hat — unmittelbar aus der
Praxis ist sie geboren; der Anstoss zu der grossen Umwandlung kam
von Aerzten, eine Thatsache, die an sich schon genügt, um zu
bezeugen, wie sehr die seelische Gesundheit von der körperlichen ab-
hängig ist. Aerzte sind es gewesen, die zuerst die Wurzel der morali-
schen Krankheit auf neuer Grundlage untersucht haben, und so weit
ihre Einseitigkeiten von der neueren Forschung auch überholt sind, an
ihr Wirken knüpft doch die ganze tiefgreifende Umgestaltung der Ver-
brecherlehre, der Lehre von der moralischen Krankheit, an.

Der Turiner Gefängnissarzt Lombroso war es, der den grössten
Umsturz in der Welt der moralischen Werthe verursachte; seine Lehre
vom geborenen Verbrecher, zu der er durch die grosse Zahl sorgfältiger
Untersuchungen in seiner Praxis geführt war, führte die Wissenschaft
in neue Bahnen, rollte ihr neue Probleme und Ziele auf, und wenn die
heutige Forschung auch weit über ihn hinausgegangen ist in ein neues
Land, so hat er doch die Brücke geschlagen, die hinüberführt.

Die Grundlage dieser psychopathologischen Forschungen ist die
Idee der »Moral Insanity«, der Erklärung einer grossen Zahl von Ver-
brechen nicht durch den freien Willen, sondern durch krankhafte Entartung,
der Abhängigkeit der moralischen Krankheit von der organischen.

Vorzüglich war es die Aehnlichkeit zwischen Geisteskranken und
Gewohnheitsverbrechern, welche die Theorien der Irren- und Gerichts-

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 17, S. 672, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-17_n0672.html)