Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 17, S. 665

Zur Charakteristik Stanislaw Przybyszewski’s (Neumann, Alfred)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 17, S. 665

Text

ZUR CHARAKTERISTIK STANISLAW
PRZYBYSZEWSKI’S.
Von Alfred Neumann (Wien).

Ein verhältnissmässig kurzer Zeitraum genügt heute, um nur zu
bald in gleichgiltige Vergessenheit zu bringen, was gestern noch strahlend
gleich einem neuen Gestirn am Himmel aufzog, was gestern seinen
gleissenden Schimmer auf die dunkle Welt warf, was gestern einer
unerschöpflichen Lichtquelle glich. Ob in kurzer oder längerer Zeit —
einerlei: das dunkle Schicksal »Vergessensein« blickt grinsend durch
die Scheiben auf ihn, der eben noch sich unvergänglich dünkt und der
da wähnt, es werde ewig so bleiben

Und doch, nicht Alle verdienen dieses harte Los!

Einer besonders nicht, einer, der mit kühnem Salto mortale
in den Sumpf »Literatur« sprang und sich mit kräftigen Stössen
durch das zähe, gefährliche Binsengestrüpp, das aus den Tiefen
lauernd seine Arme hebt, hinüberarbeitete zu dem fernen, unbetretenen
Lande, in das sich noch Niemand gewagt. Einer, der muthig in die
pfadlose, furchtbare Wildniss der Psyche zog und mit schillernden
Schätzen beladen zurückkam, mit fremden, blutrothen Steinen und
Schmuck aus glühendem Golde, das sengend die Hand des unberufenen
Neugierigen verbrennt:

Stanislaw Przybyszewski

So soll denn diese Arbeit, soweit sie es vermag, dem wider-
wärtigen Dünkel, dem bequemen Nichtmehrsehenwollen entgegentreten,
mit dem die Welt einem ihrer besten Söhne begegnet. Privatbriefen
Przybyszewski’s an den Verfasser sind die weiter unten citirten Stellen
entnommen, die neue Lichter werfen mögen auf alles das, was jener
mit Recht und Stolz sein Werk nennen darf.

Wenn man Przybyszewski’s nur ihm eigenen modus cogitandi
et cantandi in kurze, präcise Worte fassen möchte, es gelänge nicht,
denn er ist in Allem originell und originär; von welcher Seite man
ihn auch betrachten mag, nie erinnert er an ein Vorbild, das zu Akiba’s
fatalem »Schon dagewesen« Grund geben könnte. Er ist eine Er-
scheinung, die durch das Unerhörte, Niegekannte, Kaumgeahnte ihrer
Individualität frappirt, blendet, mit sich fortreisst. Man bedenke nur,
ein Pole, der das reinste, oft wundervollste Deutsch schreibt, ein
Deutsch, das neue Bilder, neue Worte, neue Verbindungen bringt, die
Schriftstellern nicht in den Sinn gekommen, welche in ihrer Muttersprache

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 17, S. 665, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-17_n0665.html)