Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 17, S. 666
Zur Charakteristik Stanislaw Przybyszewski’s (Neumann, Alfred)
Text
erzogen wurden! Mit Recht kann Przybyszewski von sich sagen: »Ich
habe die deutsche Sprache in vielen Beziehungen bereichert, und zwar
durch den Ton, Klang, die Satzstellung und den Geist der in plastischer
Hinsicht viel reicheren Sprache, der polnischen, in der ich meistentheils
denke. Ich habe den Vorstellungsinhalt bedeutend vermehrt durch Ver-
schmelzung von Tast-, Farben- und Gehörsvorstellungen, wodurch ich
dem Gefühle, das in der Sprache nur einfach ist, seine seelische Com-
plication wiedergegeben habe.«
Bei dieser Gelegenheit soll auch ein Vorwurf entschieden ab-
gelehnt werden, der von den Neidern Przybyszewski’s oft erhoben
wurde, er habe seinen für ihn so prägnanten Styl — man vergleiche
»Todtenmesse«, »Unterwegs«, »Im Malstrom« und »Satanskinder« —
von Friedrich Nietzsche entlehnt.
Weil er in nicht zu langer Zeit nach Nietzsche auftrat, weil man
bei einem philosophisch gebildeten Manne, wie Przybyszewski es bekanntlich
ist, annehmen muss, dass er sich mit dieser letzten, epochalen Er-
scheinung beschäftigt habe — er schrieb ja auch über »Chopin und
Nietzsche« — und weil sein Styl Aehnlichkeit mit der Schreibweise
des Anderen aufweist, darum sofort der mehr oder minder versteckte
Anwurf des Plagiates!
Wohl ist es richtig, dass Przybyszewski’s kühne, in’s Grosse,
Mächtige schweifende Sprache als Ausdruck gewaltiger, oft übermensch-
licher Gedanken an die Rhapsodien des Titanen gemahnt, aber des-
wegen ist sie noch lange nicht entlehnt, unoriginär. »Nietzsche und ich
stecken in derselben Mutterlauge, in der slavischen Erde; ich weiss
nicht, ob er die polnische Sprache gekannt hat, jedenfalls ist ihm durch
Vererbung die slavische Getragenheit, die Liebe für das Prächtige und
Schwere geblieben. Nietzsche’s Styl, der in Deutschland neu ist, ist
der slavische Styl par excellence. Sehen Sie sich daraufhin Mickiewicz,
Slowacki in »Anhelli«, besonders aber Krasinski in »Irydion« und
»Niebosko Komedja« an. Lesen Sie den »Todten Ton« von Kornel
Ujejski, den Richard Dehmel mit meiner Hilfe übersetzt hat. Das also
was an Nietzsche originell erscheint und was man mir von deutscher
Seite als Nachahmung auslegen möchte, ist das nationale Gemeingut,
die Eigentümlichkeit der slavischen Sprache, ebenso wie der litauischen
und des Sanskrit «
All diese Vorzüge, die Verschönerung und Vermehrung unserer
Sprache, die Bereicherung des Vorstellungsinhaltes, Vorzüge, die an
und für sich schon genügend wären, um den Namen des Dichters für
lange Zeiten berühmt zu machen, sie treten gegen Przybyszewski’s
grösstes Verdienst weit in den Schatten; wir verdanken ihm die Be-
freiung der gesammten erzählenden Prosa, namentlich des Romanes
aus drückenden Fesseln, seitdem er den psychischen Roman und
jene literarische Gattung geschaffen, die vor ihm nicht existirt hat und
für die es keinen technischen Namen gibt. »Ich meine diese Mischung
von Gedicht und skizzirter Situation, diese leben- und weltentrückte
Phantasieform, in der »Vigilien«, »Todtenmesse« und »De profundis«
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 17, S. 666, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-17_n0666.html)