Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 17, S. 673
Die Umwerthung des Schuldbegriffes (Dix, Arthur)
Text
ärzte lenkte, und auf diesem Gebiete liegt auch die Hauptthätigkeit
Cesare Lombroso’s, dessen im Jahre 1876 erschienenes Werk »L’Huomo
delinquente« zum Katechismus einer ganzen, besonders in Italien und
Deutschland weit verbreiteten Schule wurde. Umfassende Kenntnisse
und eine ausserordentliche Fülle sorgfältiger Beobachtungen aus der
Praxis geben dem Werke einen hohen Werth, und es ist kein Wunder,
dass die grosse Einseitigkeit der darin entwickelten Lehre lange Zeit
vollständig übersehen wurde. Lombroso selbst hält mit aller Zähigkeit
an ihr fest, während unter seinen Schülern hie und da auch die
neuesten Umwandlungen mitgemacht werden. Der Hauptsatz von Lom-
broso’s Lehre ist bekanntlich, dass der Gewohnheitsverbrecher in der
Regel ein geborener Verbrecher ist, der auf Grund angeborener, körper-
lich bedingter Abnormität und Eigenart unbewusst und widerstandslos
auf die Bahn des Verbrechens getrieben wird.
Es ist wohl zu beachten, dass mit diesem Satze nur der Ge-
wohnheitsverbrecher charakterisirt wird, den Lombroso danach als ge-
borenen Verbrecher bezeichnet. Der geborene Verbrecher ist ein ent-
artetes Individuum, erblich belastet, häufig in Folge von Trunksucht der
Eltern. Nach Lombroso ist der geborene Verbrecher von sehr geringer
geistiger Begabung, die höchstens ganz einseitig ausgebildet ist; auch
der geriebenste Verbrecher ist nur in einem Zweige seines Handwerks
zu Hause. Im Uebrigen ist er stumpfsinnig und roh. Mit grenzenlosem
Egoismus verbindet sich bei ihm gleichwohl ein Mangel des gesunden
Selbsterhaltungstriebes. Die Degeneration des geborenen Verbrechers
spricht sich nach Lombroso’s zahllosen Untersuchungen im Allgemeinen
in Schädelanomalien aus, äusserlich besonders kenntlich an der Form
der Stirne und der Ohren, auch der Nase und der Backenknochen.
»Moral Insanity« ist sein angeborenes Leiden.
Zu denjenigen Schülern Lombroso’s, welche seine Lehre in Deutsch-
land am entschiedensten verfechten, gehört Kurella; in Italien war es
Enrico Ferri; allein Ferri ist socialistischer Politiker und Abgeordneter,
und als solcher ist er allmälig der neuen Schule näher getreten, die
vor allen Dingen den socialen Factor betont und die Einwirkung des
»socialen Milieus« auf die Entstehung des Verbrechens zum Gegenstande
ihrer Untersuchungen gemacht hat. Zuerst wurde das sociale Element
Lombroso gegenüber von dem Wiener Benedikt ausgesprochen, und
schnell gewannen diese neuen Ideen in Deutschland Boden. Ihr grösster
und eifrigster Verfechter ist der bekannte Strafrechtslehrer Professor
Franz v. Liszt in Halle (geb. 1851), der es glücklich vermeidet,
gegenüber der einseitigen Betonung der angeborenen Moral Insanity
durch Lombroso seinerseits ebenso einseitig die ausschliessliche Bedeu-
tung des socialen Milieus zu betonen, sondern vielmehr, frei von
Schematismus und Formeln, das Zusammenwirken einer grossen Reihe ver-
schiedener Factoren, der individuellen sowohl wie der socialen, anerkennt.
Vorbereitet war das neue System durch sorgfältige Arbeiten, wie
die des Professors Alexander v. Oettingen, der in seiner »Moralstatistik«
ein grosses Material gesammelt und an der Hand desselben die Einwir-
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 17, S. 673, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-17_n0673.html)