Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 17, S. 674
Die Umwerthung des Schuldbegriffes (Dix, Arthur)
Text
kung der wirthschaftlichen und socialen Verhältnisse auf das Verbrecher-
thum eines Zeitabschnittes nachgewiesen hatte; auch der Brüsseler Astronom
und Statister Quételet hatte eine Menge statistischen Materials gesammelt.
Machte Lombroso’s Umwerthung des Schuldbegriffes den Ver-
brecher zu einem für seine That nicht verantwortlichen Geisteskranken,
so macht v. Liszt die ganze Gesellschaft mitverantwortlich für den
Einzelnen; ist Lombroso’s Heilmittel lediglich die Irrenanstalt, so stellt
v. Liszt ihr die sociale Reform an die Seite, beziehungsweise über sie.
Liszt folgt den Ideen Avé-Lallemants, wenn er sagt, die Verbrechen
haben »ihren Grund oft weniger in einer moralischen Versunkenheit
und Verderbtheit des Verbrechers, als in mangelhaften Anordnungen
und Einrichtungen der bürgerlichen Gesellschaft, deren Mitglied er ist«.
Auch Liszt stellt an zahlreichen Verbrechern die Zeichen der Entartung
fest, gleichzeitig aber auch, »dass es eine besondere Veranlagung zur
Begehung strafbarer Handlungen nicht gibt, sondern, dass es von den
äusseren Verhältnissen, von den Lebensschicksalen in ihrer Gesammt-
heit abhängt, ob die Störung des sittlichen Gleichgewichtes zum Selbst-
mord, zum Wahnsinn, zu schweren Nervenleiden, zu körperlichen Krank-
heiten, zu unstetem, abenteuerlichem Lebenswandel oder aber zum Ver-
brechen führt«. Er untersucht das Verbrechen als eine eigenartige Er-
scheinung des gesellschaftlichen Lebens und sucht die socialen Be-
dingungen des Verbrechens klarzulegen. Noch stärker als er betonen
den wirthschaftlichen und socialen Factor Schriftsteller wie Baer, Starke,
G. Mayr u. A. Auch die statistischen Untersuchungen, die Paul Strauss
in Frankreich angestellt hat (»L’enfance malheureuse«, Paris 1896),
verdienen hier genannt zu werden. Am kürzesten fasst Baer (»Der
Verbrecher«, Leipzig 1893) die Lehre der socialen Criminalpsychologie
zusammen, indem er sagt: »Wer die Verbrechen beseitigen will, muss
die socialen Schäden, in welchen das Verbrechen wurzelt und wuchert,
beseitigen.« Wie sehr sich auch der aus Lombroso’s Schule hervor-
gegangene, oben schon genannte E. Ferri der Ansicht dieser Criminal-
sociologen genähert hat, ist gleichfalls schon von Baer dargelegt, welcher
schreibt: »Wenn Ferri in neuerer Zeit die Ansicht vertritt, dass der
Verbrecher das Resultat dreier Factoren ist, welche zu gleicher Zeit
wirken, dass diese drei Ursachen individueller, d. h. anthropologischer,
somatischer und socialer Natur sind, so werden nach unserem Dafür-
halten diese drei Ursachen thatsächlich zu einer einzigen, wenn man,
wie er selbst andeutet, in Erwägung zieht, dass die beiden ersten Ur-
sachen von den socialen Bedingungen abhängen.«
In der That ist in den heutigen Forschungen und Theorien das
sociologische Element immer mehr über das anthropologische gestellt
und der Begriff des geborenen Verbrechers von der Mehrzahl der Ge-
lehrten fallen gelassen. Selbst wo von einer angeborenen »Moral Insanity«
gesprochen werden kann, ist diese wieder zurückzuführen auf über-
wiegend sociale Factoren, unter deren Einfluss die Erzeuger standen,
und die socialen Factoren müssen im Allgemeinen erst in Wirksamkeit
treten, um den Degenerirten gerade zum Verbrecher zu machen. Jeden-
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 17, S. 674, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-17_n0674.html)