Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 17, S. 675

Die Umwerthung des Schuldbegriffes (Dix, Arthur)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 17, S. 675

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DIE UMWERTHUNG DES SCHULDBEGRIFFES. 675

falls ist Lombroso’s Construction einer besonderen Verbrecherrace,
eines von Geburt entarteten Theiles der Menschheit, der zum Ver-
brechen absolut prädestinirt ist, heute durchaus nicht mehr aufrecht
zu erhalten. Es trifft nicht zu, dass angeborene oder erworbene geistige
Entartung stets zum Verbrechen führen muss, wenn sie auch häufig
dazu führt. Jedenfalls steht die Bedeutung des »Milieu social« in der
Criminalpsychologie an erster Stelle, und das Hauptgewicht der For-
schung wird daher auf der Criminalsociologie zu ruhen haben, ohne
die mannigfachen anderen Factoren, besonders individueller Natur,
ausser Acht zu lassen. — — —

Die moralischen Werthe sind nichts Festes, Unveränderliches.
»Jede Culturstufe,« sagt Rée (»Entstehung des Gewissens«), »stempelt
zu Tugenden die Eigenschaften, zu Pflichten die Handlungen, deren
sie bedarf.« Und wie der Begriff des Verbrechens selbst sich ändert,
so wandelt sich auch der Begriff der Schuld. Während bisher alle
Schuld einzig und allein dem Verbrecher selbst beigemessen wurde,
machte die Theorie Lombroso’s ihn frei von aller Schuld und aller
Verantwortung, da sie den freien Willen des Verbrechers leugnete und
das Verbrechen als sein unabwendbares Schicksal darstellte; und die
neueste Schule stellt neben den Verbrecher als mitschuldig und mit-
verantwortlich die ganze Gesellschaft, die socialen Einrichtungen. Es
ist selbstverständlich, dass derartige tiefgreifende Umwerthungen auch
eine völlige Umgestaltung der Sühne, eine Umgestaltung des Straf-
rechtes verursachen müssen. Lombroso setzt den Strafrichter ab und
setzt an seine Stelle den Irrenarzt; Liszt dagegen setzt einen neuen
Strafrichter ein, dem er den Arzt und den socialen Gesetzgeber bei-,
beziehungsweise überordnet.

Das älteste Zugeständniss an die äusseren Einwirkungen im alten
Strafrecht ist die Anerkennung der Nothwehr und des Nothstandes.
Geradezu als Uebergangsstufe vom alten Recht zu jenen Einrichtungen,
die aus den neuen Theorien der Verbrecherlehre folgen müssen, bildet
die Zuerkennung mildernder Umstände; je nach der Fassung und Aus-
dehnung derselben lässt sich die Möglichkeit erkennen, dem »socialen
Milieu« eine weittragende Bedeutung zuzubilligen und dieselbe im Straf-
recht zur Geltung zu bringen. Eine frühe Stufe dieses Ueberganges
bildet auch die Unterscheidung zwischen vorsätzlichen und fahrlässigen
Vergehen, die gleichfalls den äusseren Einwirkungen Rechnung trägt.
So lange man in dem Verbrecher ein Individuum erblickt, das sich
aus freiem Willen an der Gesellschaft versündigt, war es selbstverständ-
lich, dass die Gesellschaft von einem solchen gefährlichen Subject be-
freit wurde; das geschah am radicalsten und folgerichtigsten durch
die Tödtung des Verbrechers, während die späteren Einrichtungen zum
Theil geradezu widersinnig sind; denn eine Geldstrafe hält den Ver-
brecher gar nicht von der Gesellschaft, der er Schaden zufügt, fern,
und eine kurze Freiheitsstrafe thut dies zwar für kurze Zeit, aber nur
zu oft mit negativem Erfolge, da der Verbrecher durch sie nicht ge-
bessert wird, vielmehr das Gefängniss oft als viel gefährlicherer Patron

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 17, S. 675, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-17_n0675.html)