Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 17, S. 676

Die Umwerthung des Schuldbegriffes (Dix, Arthur)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 17, S. 676

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676 DIX.

verlässt. Alle Theorien der Abschreckung, Besserung u. s. w. können
an dieser Thatsache nichts ändern.

Aendert sich nun aber der Begriff der Schuld und Verantwort-
lichkeit, so muss auch das Strafrecht eine entsprechende Veränderung
erfahren. Hätte Lombroso’s Lehre gesiegt, so wäre jede Verantwortung
von dem Verbrecher genommen, er wäre als Irrer zu behandeln und
demgemäss an Stelle der Strafanstalt in eine Irrenanstalt zu stecken.
Wäre dagegen die entgegengesetzt einseitige Richtung, welche alle
Schuld allein dem socialen Milieu zuschieben will, im Recht, so wäre
der Verbrecher gleichfalls ohne Verantwortung, und es gäbe für ihn
überhaupt keine Strafe oder dergleichen, er müsste nur social besser
gestellt werden — ja, die Gesellschaft hätte ihm Busse zu leisten. Es
ist schwer, den Gedanken und seine Folgen ernsthaft auszudenken!
Finden endlich beide Factoren, die individuellen und die socialen, die
richtige Würdigung, so wird das System äusserst complicirt. Einmal
steht zunächst fest, dass dann zur Verminderung der Verbrechen auf
die Schaffung eines möglichst günstigen socialen Milieus hinzuarbeiten
ist, dass also der Gesetzgeber mit socialen Reformen dem Strafrichter
vorarbeiten muss. Der Strafrichter selbst bleibt in Thätigkeit für jene
Verbrechen, denen ein individuelles Verschulden zugrunde liegt; die
einzelnen Verbrecher würden je nach ihrer Eigenart dem Arzte,
insbesondere dem Irrenarzt auszuliefern sein oder für die Gesellschaft,
die sie bedrohen, dauernd unschädlich gemacht werden, indem man
sie in Anstalten unterbringt, die zwischen dem Gefängniss und dem
Asyl stehen. Die Strafe wird theils zur Erziehung, theils zur Cur, theils
zur pädagogischen, theils zur ärztlichen Behandlung.

Ein Anfangsstadium der die Strafe ersetzenden Erziehung bildet
heute bereits die bedingte Verurtheilung; dient die Strafandrohung
thatsächlieh dazu, den Delinquenten von weiteren strafbaren Handlungen
abzuhalten, so ist der erziehliche Zweck erreicht; andernfalls wird er
auf längere Zeit für die Gesellschaft unschädlich gemacht. Die neueren
Forderungen ergänzen dieses System nun dahin, dass der rückfällige
Verbrecher in der Anstalt so lange zurückgehalten werden soll, bis
weitere Rückfälle nicht zu erwarten sind, unter Umständen also lebens-
länglich, jedenfalls aber nicht auf eine vorher festgesetzte Zeit. Für diese
unbestimmte Strafdauer hat sich besonders der dritte internationale
Congress für Criminal-Anthropologie, der 1892 in Brüssel abgehalten
wurde, ausgesprochen. Dieselbe Forderung hat die internationale crimi-
nalistische Vereinigung, an deren Spitze die Professoren v. Liszt-Halle,
Hamel-Amsterdam und Prinz-Brüssel stehen, in ihre Grundlinien aufge-
nommen und damit hinlänglich dargethan, welche Aufgaben die grosse
moderne Umwerthung der moralischen Werthe dem Strafrecht der
Zukunft stellt.



Herausgeber und verantwortlicher Redacteur: Rudolf Strauss.

Ch. Reisser & M. Werthner, Wien.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 17, S. 676, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-17_n0676.html)