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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 18, S. 679

Text

TANTE SEVERINE. 679

Was das Gesicht anbetraf, so hatte sie ja zwei Augen, eine
regelmässige Nase, einen Mund, Zähne und auch volle Haare, und
dazu lebte in ihr die empfänglichste Seele.

Vielleicht, sagte sie sich, bedarf es nur der Zeit. Alle Frauen
sind nicht so schön, wie Psyche es zu 15 Jahren war. Psyche ist die
frische Jugend, die Knospe, das Versprechen, aber Alles in Allem doch
eine unreife Frucht.

Hatte nicht die Handschuhmacherin, dieses gefährliche Weib, das
die Ruhe sämmtlicher Familien des Viertels störte, zu 15 Jahren ein
Kind gehabt? Und gestand sie nicht selbst, dass sie damals nur eine
kleine, magere Gans gewesen? Wer weiss, ob Frau von Maintenon, als sie
Scarron zu 20 Jahren heiratete, ebenso schön war als zu der Zeit, da
sie, eine reife Vierzigerin, den König von Frankreich in ihre Netze zog?

Sie hörte auch erzählen und erfuhr es durch ihre Lectüre, dass
die Schönheit den Frauen mit der Liebe kommt; aber da sie anderer-
seits hörte und es ebenfalls las, dass man seiner Schönheit wegen
geliebt wird, so fingen diese beiden Dinge an, in ihrem Geiste inein-
ander zu verschmelzen. Allerdings war sie keines jener unbedeutenden
Weiber, die ihre Reize nur aus Eitelkeit oder zum Zwecke der
Koketterie pflegen; sie glich in keiner Weise ihren Gefährtinnen, die
sie als Original behandelten.

Stets von einem künsterischen Ideal beherrscht, kleidete sie sich
in seltsamer Weise mit griechischen Bändern in den Haaren und rothen
Shawls, in die sie sich nach Muster der Statuen drapirte; allein ihre
Unschönheit — Hässlichkeit wäre zu stark — erschien in diesem merk-
würdigen Aufputze doppelt schlimm. Von ihrer Phantasie, ein Bild
erhabener Schönheit zu verkörpern, hingerissen, vernachlässigte sie die
Kleinigkeiten, vergass sie, sich die Nägel zu schneiden, trug sie krumme
Stiefel, Handschuhe ohne Knöpfe, zerknitterte Bänder und zerrissene
Strümpfe. Sie wusch sich nicht einmal alle Tage das Gesicht.

So war sie, die Schönheit und die Liebe erwartend, an den
Wirklichkeiten des Lebens vorübergegangen, ohne es zu bemerken,
immer träumend. Sie träumte Morgens, wenn sie ihre seidene Decke
abwarf und leichtfüssig auf eine kleine Estrade sprang, die sie mit zu-
sammengenähten Tuchstücken belegt; sie dachte an die »Aurora« des
Guido Reni, die im Glänze der aufgehenden Sonne über den Wolken
schwebt, und mit einer Vision unbekleideter Nymphen vor Augen, warf
sie den Rock über ihre mageren Hüften.

Indessen vergingen die Jahre; weder die Schönheit kam, noch
die Liebe, die so viele Meisterwerke geschaffen, die Madonnen Raphael’s,
einige Porträts von Van Dyck, »den Kuss« von Hayez, die Schönheit
und die Liebe, diese Gipfel des heidnischen Olymps, ihres eigenen
Olymps.

Im Hause ihres Bruders, der Feldmesser war und der den ganzen
Kunsthausrath seines Vaters verkauft hatte, fand Severine keine Peplums
mehr, und sie wagte es auch nicht, vor ihrer Schwägerin in der Flanell-
jacke und der unvermeidlichen Schürze Bacchantinnenkränze in ihr

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 18, S. 679, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-18_n0679.html)