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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 18, S. 680

Text

680 NEERA.

Haar zu flechten. Bald waren Kinder da, die sich der Tante Severine
an die Röcke hingen; man musste ihnen ihre Suppe geben, ihnen
Männerchen aus Papier schneiden, ihnen die Nasen putzen; und unter
all diesen häuslichen Beschäftigungen verbitterte die alte Jungfer, verlor
ihr Ideal aus den Augen und bekam jenes lange, erdfarbene, undurch-
dringliche Gesicht, das die herben Bemerkungen ihrer Schwägerin
hervorrief.

»Man mag thun, was man will, Severine ist nie zufrieden!«

Trotzdem hoffte Severine bis zu diesem Tage noch immer; so
lange noch 12, 6, 1 Stunde fehlte, konnte noch immer eine Revolution,
ein Erdbeben, ein Wunder eintreten! Wer weiss, was passiren konnte.
Als sie Morgens das Bett verliess, hatte sie sich gesagt:

»Wenn ich mich wieder schlafen lege, werde ich vierzig Jahre
alt sein!«

Doch ein schwankendes Licht, eine tolle Illusion hielt sie aufrecht,
gerade als stände sie am Vorabend geheimnissvoller Ereignisse.

Sie hatte auch gesagt: »Ich will diese letzten Stunden der Jugend
geniessen.« Doch wie? Was thun? Ihr Blut kocht, ihr Geist verwirrte
sich; ein gebieterisches Verlangen, die Zeit zurückzuhalten, versetzte
sie fast in Fieber. Die Stunden vergingen, und sie zählte sie muthlos.
Es kam nichts.

Der Briefträger brachte ihr zwei oder drei Briefe, die sie mit
zitternder Hand öffnete: Glückwünsche, Redensarten, Gemeinplätze.
Schliesslich hatte man ihr das kaffeefarbene Kleid, die Nachtlampe und
den Fusswärmer geschenkt

Je mehr der Tag sich seinem Ende näherte, desto undurchdring-
licher wurde das Gesicht der Tante Severine. Bei Tische hatte man
Trinksprüche ausgebracht und eines der Mädchen hatte ein kleines
Glückwunschgedicht hergesagt; die Tante blieb stumm, und die zwei
Schluck Marsala, die sie trank, machten sie nur noch düsterer.

Dann konnte sie sich in ihr Zimmer zurückziehen, ihre Geschenke
auf den Tisch legen und sich auf den Rand ihres schmalen Bettes
fallen lassen.

Die zitternde Flamme des Lichtes tanzte vor ihren Augen und
erregte in ihr eine letzte Illusion; sie erhob die Hand, um sich davor
zu schützen, und begann nachzudenken, obwohl ihre Betrachtungen
eigentlich gar keine Gedanken waren. Es waren Visionen, jene tollen
Spiele der Phantasie, die getrübten Gemüthern entspringen, jene Ge-
dankenbilder, die durchaus leben wollen und wie losgelassene Hunde
die Nerven erschüttern. Es war eine grosse, tiefe Traurigkeit, ein Zu-
sammenbruch aller Dinge, die sie stets in dieser letzten Abendstunde
packte, gleichsam einen inhaltsleeren Tag beendend und das Wort
»Schluss« unter eine leere Seite setzend.

Und an diesem Abend handelte es sich nicht mehr um einen
Tag oder um eine Seite; es war ihre ganze Jugend, die zu Ende ging,
die da starb und die sie sozusagen unterzeichnen musste; ein Wechsel,
der einen Werth repräsentirte, den sie niemals besessen!

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 18, S. 680, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-18_n0680.html)