Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 18, S. 683

Die Goncourts und der Kunstgedanke (Gaultier, Jules de)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 18, S. 683

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DIE GONCOURTS UND DER KUNSTGEDANKE.
Von Jules de Gaultier (Paris).
Deutsch von Clara Theumann.

Die Kunst eine Lebensfunction. Wenn irgend ein Gläu-
biger der Aesthetik es unternehmen würde, ein »Leben der geistigen
Heiligen« zu verfassen, könnte er nicht umhin, den Goncourts den ersten
Platz darin anzuweisen. Denn diese beiden seltenen Schriftsteller ge-
hören nicht nur durch ihre Werke, sondern auch durch ihr Leben der
geistigen Welt an, durch ein Leben steter Verzichtleistung zu Gunsten
einer Idee, deren Askese einer religiösen Auffassung gleichkommt. Die
Kunst war für sie wirklich eine Religion. Und während das geschriebene
oder gesammelte Werk die Kritik interessirt, begeistert das erlebte
Werk den philosophischen Geist und fordert zu einer Betrachtung über
den eigentlichen Gedanken auf, an den die beiden Brüder glaubten.
Die hohe Bedeutung ihrer Haltung liegt übrigens darin, dass sie nicht
allein dasteht. Andere Künstler unserer Zeit waren von ähnlicher Be-
geisterung beseelt, haben wie sie ästhetische Gelübde gethan und
jedwede Lebenssorge der uneigennützigen Freude geopfert, die Schönheit
auszudrücken.

Wenn man den ausschliesslichen Cultus ins Auge fasst, den die
Kunst in allen diesen Männern wachgerufen hat, vermuthet man dann
nicht mit Recht, dass sie durch den Menschen eine der tiefen Ab-
sichten des Lebens verwirklicht? Wenn die deutsche Philosophie uns
lehrt, dass das Leben, indem es sich vollzieht, seinen Willen zum
Leben darlegt, zeigt uns das Schauspiel des menschlichen Hirns mit
seinen complicirten Einrichtungen, welche das Weltall in Laute, Farben,
Düfte umsetzen, dass das Leben auch seiner selbst bewusst werden
will; aber es scheint, dass sein Wunsch noch weiter geht, und dass
es, bevor es vernichtet, Zeugniss davon ablegen will, dass es seiner
bewusst geworden ist; wir dürfen annehmen, dass zu diesem Zwecke der
Mensch das Kunstwerk ausführt. Durch dieses festigt er, indem er
sein Aeusseres und das der Dinge mittelst auserwählter Zeichen wieder-
gibt, das Bewusstsein des eigenen Schauspiels, zu dem das Leben in
ihm gelangt. Von diesem Standpunkt aus ist das Kunstwerk also kein
vorübergehender Zwischenfall, es steht im Gegentheil unter dem Zeichen
der Nothwendigkeit und nimmt am Gipfel der biologischen Entwick-
lung den höchsten Platz ein. Die Wichtigkeit seiner Aufgabe recht-
fertigt die Verschiedenheit der Mittel, durch welche es sich verwirk-
licht; deshalb darf man sich auch nicht wundern, das künstlerische
Phänomen an zwei entgegengesetzten Punkten des Lebens aufblühen zu

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 18, S. 683, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-18_n0683.html)