Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 18, S. 682
Text
war jetzt diese Aufforderung, diese Einladung zum Vergnügen, und
welche unnütze Anspielung auf das Leben, das sich nicht erneuert!
Als wenn sie Herrin über ihr Schicksal gewesen wäre!
Sie war mit starren, glasigen Augen mitten im Zimmer stehen-
geblieben und liess die Arme schlaff herniederhängen. Aus dem Neben-
zimmer vernahm sie das Geschwätz der Kinder, die aus ihrem ersten
Schlummer erwacht waren; sie plapperten von Puppen und Bonbons.
Die Stimme der Mutter murmelte unter der Decke: »Bleibt ruhig;
schlaft!« Sie hörte die Wiege unter dem Gewicht der kleinen Körper
knarren und das grosse Bett gehorsam unter dem ruhigen Körper der
Mutter nachgeben, die sich nach der anderen Seite drehte.
Severine trat auf ihr elendes Lager zu; sie zog unter dem Kopf-
kissen ein Netz aus weisser Baumwolle hervor und legte es um ihre
Haare. Es war zu Ende. Von nun an würde in diesem Bett ein altes
Weib liegen.
Sie wiederholte das Wort »alt« und blickte sich um, ganz er-
staunt, dass Niemand widersprach.
Und doch welche Unnatürlichkeit, welche Ungerechtigkeit!
Sie fühlte sich nicht alt. Wenn die Jugend wüsste, wie schwer
es ist, die Wünsche zu tödten: Balzac setzte als Grenze dreissig
Jahre Wahrscheinlich, um die Mädchen von zwanzig nicht allzusehr
zu entmuthigen!
Sie setzte die Betrachtung ihres kalten, nackten Zimmers fort, in
dem die Möbel keine Stimme hatten, und in dem die beständige
Traurigkeit der Gegenstände die Traurigkeit ihres Lebens wiedergab;
das steife Bett, den glanzlosen Spiegel; auf dem Toilettetisch einen in
der Bürste steckenden Kamm, zwei chocoladenfarbene Lederpantoffeln,
ein Stück Sammet auf einem Stuhl, doch kein Band, keine Blume;
eine klösterliche Regelmässigkeit, die graue Einförmigkeit der Zellen,
in denen man nie zu zweien ist.
Sie knüpfte ihre Röcke auf, hakte die Oesen ihres Corsets los
und blieb im Hemde. Noch einmal schweifte ihr Blick über die Wände,
jenseits der Wände hinaus zu der schlafenden Welt, der lebenden und
leidenden Welt Sie sah eine Kette, die sie alle mit einander ver-
band, Heitere und Trübselige; sie sah das Mitleid über die Holz-
pritschen geneigt, und sie beneidete die Kranken; sie beneidete die-
jenigen, die weinen können, die schreien können, die ein brandiges
Bein haben und es sich abschneiden lassen; sie beneidete alle Schmerzen,
die man sehen kann, und die sich berühren lassen — die einzigen, an
die die Welt glaubt!
Sie erhob die Arme, streckte sie mit mühsamer Verrenkung ihres
ganzen Wesens und liess einen wirren Blick umherschweifen; dann
bückte sie sich schnell, um ihre Strümpfe aufzunehmen, warf sie in
einen Winkel, löschte das Licht aus, suchte tastend ihr Bett und
flüchtete wie eine verlorene Seele in die grosse Vergessenheit der
Finsterniss.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 18, S. 682, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-18_n0682.html)