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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 18, S. 681

Text

TANTE SEVERINE. 681

Und hier in der Einsamkeit des Schlafzimmers, wo die Glück-
lichen ihre Freuden und die Liebenden ihre Wonnen zählen, wenn in
der schamhaften Sicherheit der Nacht alle Schleier fallen, wenn alle
Masken abgenommen werden und die blossgelegten Herzen nicht mehr
den Stachel der Ironie fürchten, hier zählte auch Tante Severine ihre
kargen Illusionen, die sie alle Abend geringer werden, an Form und
Farbe verlieren und sich im Dunkel auflösen sah.

Ein schwerer Seufzer hob ihre Brust. Ihre langen Finger suchten
die Haken ihres Mieders, und langsam öffnete sie es, als wenn sie aus
ihren Eingeweiden den Hass gegen sich selbst aufsteigen fühlte, denn
sie hasste dieses hässliche Gesicht, das ihr seit 40 Jahren Leiden ver-
ursachte, das all ihr Unglück und ihr Kreuz war.

Welches Vergnügen — das natürlichste, wahrste, köstlichste,
weiblichste — muss die Frau empfinden, die, sich betrachtend, in sich
das schönste Werk Gottes bewundert! Einen einzigen Tag Venus sein
— glänzen, lieben, sterben, das ist genug! Doch nur geboren werden
und sterben, einfach geboren werden und sterben, ohne etwas Anderes
dazwischen als das Alter — das ist ein grausames Schicksal!

Wie ruhig die Welt schläft! Und wie drollig es jetzt wäre, das
Fenster zu öffnen und zu schreien: »Kommt, kommt, hier stirbt das,
was ich am meisten auf der Welt geliebt, meine Jugend!«

Aber draussen war es kalt; die Nacht war schwarz; und als sie
das Fenster fest geschlossen und die Jalousien heruntergelassen, zog
Severine ihr Kleid aus und hing es in den Schrank und näherte sich
im kurzen Rock mit platter Brust, langer und dünner Taille, von oben
bis unten ein Stock, der Commode.

Sie wühlte einige Augenblicke in den Schubladen, warf Taschen-
tücher herum und öffnete Schachteln. Sie nahm einen halb entblätterten
Lavendelstrauss heraus und roch daran; sie hatte ihn auf einer Land-
partie, an einem schönen Herbsttage gekauft; damals trug sie ein blaues
Kleid und einen grauen Hut, der ihr gut stand; wenigstens hatte man
es ihr gesagt. Sie berührte einen Fächer, ein leeres Fläschchen, ein
Armband, das sie schon lange nicht mehr anlegte, und das sie jetzt
probiren wollte; sie steckte den Arm hinein, zog ihn aber sogleich
kopfschüttelnd wieder heraus. Ihr ganzes Leben war in der Commode
eingeschlossen, verwelkt und entblättert wie der Lavendelstrauss; leer
wie das Fläschchen, das Parfum enthalten und nicht einmal den Duft
bewahrt hatte.

In einem alten Notizbuch las sie die mit Bleistift geschriebenen
Worte:

»Die da jung und schön ist, mag nicht streng und stolz sein,
denn das Leben erneuert sich nicht wie das Gras.«

Und sie erinnerte sich an das lustige, lachende Gesicht desjenigen,
der ihr nach einem Neujahrsschmause mit leuchtenden Augen und
zärtlichem Herzen diese Worte in ihr Büchlein eingeschrieben hatte;
es war eine lustige Abendgesellschaft, auf der auch sie sich mit der
naiv sinnlichen Freude der Jugend amüsirt hatte; doch welche Ironie

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 18, S. 681, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-18_n0681.html)