Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 18, S. 684
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sehen, nämlich zur Zeit seiner grössten Intensität und seines letzten
Niederganges.
Die Kunst der ersten Perioden scheint ihren Ursprung in der
Lebensfreude und Glut zu haben, welche, durch die That nicht ge-
stillt, sich unter tausend verschiedenen Formen wiederholte. Die Liebe
zum Leben zeugt diese Darstellung des Lebens. Diese Perioden der
Genialität finden wir zu verschiedenen Zeiten in der Weltgeschichte;
sie setzen weder eine kräftige Entwicklung, noch eine besondere Ver-
feinerung der Civilisation voraus. Das Leben gibt sich in ihnen plötz-
lich durch die Vermittlung der Menschheit kund; ohne jedoch von
ihr, wie es scheint, eine schmerzliche Arbeit oder die Errungenschaften
einer alten Cultur zu fordern. Die Romantik von Goethe, Byron,
Chateaubriand an bis auf Lamartine und Victor Hugo war inmitten
der Verwicklungen unseres modernen Lebens eine jener frei empor-
schiessenden natürlichen Keimungen, welche auch im XVI. Jahrhundert
mit Shakespeare und der italienischen Renaissance, unter Griechenlands
Himmel mit Homer und — um ein äusserstes Beispiel anzuführen —
bei den Bildhauern und Kupferstechern der Steinzeit in Aequitanien
und einem Theil Galliens aufblühten. In diesen glücklichen Zeiten
sprosste das Leben, das eben erst auf den grünen Halmen, dem
Purpur und Azurblau der Blumenkronen erblüht war, in den Windungen
auserwählter Menschenhirne und brachte wunderbare Schöpfungen
hervor.
Das sind die heroischen Zeiten der Kunst: sie gebären die ge-
nialen Menschen. Diese stehen abseits vom Wege der Menscheit: ein
Instinct leitet sie; sie schaffen, wie andere wachsen.
Aber dieses geniale Erblühen ist selten und sichert zweifelsohne
nicht in hinreichendem Masse die Wiedergabe der Weltschauspiele. Um
dieser Unzulänglichkeit abzuhelfen, wird die Kunst nun, nachdem sie
aus einem Ueberschuss an Lebenskraft erstanden ist, aus einem Säfte-
mangel, einem Fehlen der Lebenskraft erstehen, gleich jenen Flechten,
die alte Bäume überwuchern. Sie war ein Kind der Freude. Sie wird
nun aus einer Lebensmüdigkeit und einem Abscheu vor der That ent-
stehen, welche in Manchen nur mehr Raum zur Betrachtung der
Linien, der äusseren Thaten lassen. Das Leben will diese Wesen, aus
denen die Thatkraft entflohen scheint, mittelst einer äussersten Mass-
regel in seinen Dienst stellen; es will sie nicht ihren unfruchtbaren
Betrachtungen überlassen. Um sie dazu zu bestimmen, die Bilder jener
Thaten, die sie nicht mehr vollführen, wiederzugeben, übt es einen
fascinirenden Reiz auf sie aus: die spontanen und genialen Werke,
deren Pracht am Schönheitshimmel erstrahlt, geben dem Kunstgedanken
Ueberschwang und verleihen ihm einen magnetischen Einfluss auf die
Geister, während das Absterben der Energie, welches bei diesen Ent-
erbten die Macht der gewöhnlichen Handlungsmotive herabdrückt, sie
zugänglicher macht für den Reiz der Fascination. Die Künstler dieser
Niedergangsperioden spiegeln in ihren Werken die erhabenen Seiten
und die originelle Unvollkommenheit dieser Kunstform wider. Ohne
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 18, S. 684, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-18_n0684.html)