Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 18, S. 685

Die Goncourts und der Kunstgedanke (Gaultier, Jules de)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 18, S. 685

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DIE GONCOURTS UND DER KUNSTGEDANKE. 685

Interesse für das Handeln zu haben, bestreben sie sich einzig und allein
zu »sehen«, so dass die Vollkommenheit ihrer ästhetischen Haltung
aus ihrer Unfähigkeit zur That entspringt. Aber während sie so eine
unerlässliche Bedingung zur Hervorbringung eines Kunstwerkes er-
füllen, fehlt ihnen zumeist eine andere: das Vermögen der Ausführung.
Denn es zwingt sie nicht, wie zu den Zeiten genialer Kunst, ein un-
abänderlich siegreiches Talent dazu, das Leben durch sinnreiche Com-
binationen von Worten, Linien und Tönen darzustellen. Das Talent
weicht bei ihnen einer blinden Vorliebe. Man kann auf sie einen Ge-
danken La Rochefoucauld’s über die Liebe anwenden und sagen,
dass die meisten von ihnen die Kunst nicht gekannt hätten, wenn sie
nicht davon reden gehört hätten. Ihre Begeisterung ist noch kein Bürge
für ihre Fähigkeiten. Nichtsdestoweniger wird sie bestrebt sein, ihnen
die unsichere Begabung zu ersetzen, so dass sie all ihre Muskeln
stählen, ihre ganze Energie auf jenes einzige Ziel, jenen ungeheuerlichen
Widerspruch richten: Talent erwerben, in sich Spontaneität entfalten.
Alle denken sich aus, dass sie jene Fähigkeit besitzen, die ihnen nicht ge-
geben ward, und dieser Gedanke ist bei Manchen so gewaltig, dass
ihr hochfliegender Traum sie mit einem verzweifelten Flügelschlag
gleichsam über sich selbst erhebt und sie wirklich ganz jenen Regionen
zuführt, in denen er erblüht.

Die Goncourts vollführten diesen heldenhaften Aufflug. Das
künstlerische Ideal hatte auf sie die Wirkung, die das religiöse auf
manche Andere hat. Die höchste Gnade wurde ihnen gewährt für jene
Askese, Gluth und Inbrunst, für die ihr Leben Zeugniss ist, sie wurden
die Künstler, die zu sein sie geträumt hatten.

Durch diese Leistung sind sie die typischsten Vertreter der geistigen
Familie, die das Leben zur Darstellung seiner Luftspiegelungen sich
dienstbar gemacht; sie sind die Helden jener specifischen Kunstform,
deren Quell blinde Vorliebe und Müdigkeit ist.

Die Goncourts haben uns in den neun Bänden ihres »Journal«
eine vollständige Autobiographie ihres Künstler- und Literatenlebens
gegeben. Ihre Leidenschaft zu »schauen« bürgt uns für die Authenticität
des Niedergeschriebenen; sie wären nicht imstande gewesen, die Züge
der gefälligen Vorbilder, die ihnen dienten, zu ändern; und hätten sie
es versucht, es wäre ihnen wahrscheinlich nicht gelungen; hat ihre
Beobachterthätigkeit nicht das Mechanische eines äusserst vollkommenen
Apparates, der in sich selbst die Controle trägt, durch das Spiel seiner
Räder alle in seinem Gebiete sich abspielenden Phänomene empfängt
und anzeigt?

Deshalb offenbart uns das »Journal« auch einerseits ihre Un-
fähigkeit, zu leben, die die Vollkommenheit ihrer künstlerischen Haltung
bestimmt, andererseits den allmächtigen Zauber, den das Kunstwerk,
ihre Religion, auf sie ausübte. Es erzählt uns von der schmerzensreichen
Aneignung des Talentes und zeigt uns andererseits, trotz der siegreichen
Pracht des Gelingens, das Laster jener Lebensunfähigkeit, die bei Edmond
de Goncourt ins Extrem ausartete.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 18, S. 685, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-18_n0685.html)