Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 18, S. 686

Die Goncourts und der Kunstgedanke (Gaultier, Jules de)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 18, S. 686

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686 GAULTIER.

Lebensunfähigkeit. Wenn man von der Lectüre des »Journal»
den Eindruck trennen will, den sie hervorbringt, so drängt sich vor
Allem eine Wahrnehmung auf: der Kampf um die materielle Existenz
war den beiden Schriftstellern erspart. Hierin zeigte das Leben Takt
und Klugheit: es scheint, die Goncourts hätten sich nicht darein gefunden,
zu handeln, nur um das Fortbestehen ihres Körpers zu sichern. Fühlen
sie sich nicht schon unbehaglich, wenn sie die Güter erhalten sollen,
in deren Besitz sie von Natur aus gesetzt sind? Alle sich auf das
Verzinsen eines Vermögens beziehenden Handlungen, alle Beziehungen
zu Amts-, Geschäfts- oder Finanzmenschen versetzen sie in einen so
angstvollen Zustand, dass sie, diese beiden Männer von hoher Begabung,
von Unternehmungen dieser Art furchtsam das Resultat erwarten, wie
vor einer unberechenbaren Lotterie.

Ebenso widerstrebend zeigen sie sich den Regungen der Leiden-
schaft gegenüber; über diesen Punkt enthält das »Journal« zahllose
klagende oder verächtliche Geständnisse. »Den politischen Ehrgeiz
kennen wir nicht, die Liebe ist für uns, nach Chamfort’s Ausspruch,
nur die Berührung zweier Schleimhäute.« Und dann müde Sätze, wie
dieser: »Wir sind vom Gipfel des Genusses in die Oede herabgefallen.
Wir sind schlecht organisirt, zur Sattheit geneigt, eine Liebeswoche
gibt uns für drei Monate Abscheu.« Oder nach dem Bericht eines
kurzen Abenteuers, das mit dem Erklettern eines Balkons begann,
folgender, von leisem Bedauern durchwehter Ausspruch: »Ich war
während einer Strecke von 15 Fuss verliebt gewesen, ich glaube wohl,
dass ich mein ganzes Leben nur so anfallsweise lieben werde.«

In allen ihren autobiographischen Aufzeichnungen finden sich
wiederholte Erwähnungen ihres Losgelöstseins und namentlich folgender
Vorwurf gegen die Knauserei des Lebens ihnen gegenüber: »Warum
haben wir Beide die stete Empfindung, dass uns innere Wärme, phy-
sischer Schwung fehlt, nicht vielleicht für die Gedankenarbeit oder das
Anfertigen eines Buches, sondern für den socialen Verkehr, die Be-
rührung mit den Männern, den Frauen, den Ereignissen? Ja, wir
brauchten den Nachguss einer Dosis jungen Blutes oder einer Flasche
alten Weines, um mitthun zu können im Pariser Leben.« Dann die
formellen Geständnisse des Ueberlebenden: »Frühzeitig hat mich die
unbestimmte Gleichgiltigkeit eines Sterbenden erfasst. — — — — —
Ich bin zu jener endgiltigen Loslösung vom Kampfesleben gelangt,
kraft derer sich im vorigen Jahrhundert ein Mann wie ich in einem
Kloster, einem Benedictinerkloster, vergraben hätte.«

Vervollkommnung der künstlerischen Haltung. So
wurden die Goncourts entnüchtert geboren, gleich als ob ihre Vorfahren,
nachdem sie den ganzen Kreis der Thätigkeiten, die instinctive Kraft,
die uns zum Trugspiel der Bewegungen und Begierden treibt, erschöpft,
ihnen mit der latenten Erinnerung an die eitlen Mühen eine enttäuschte
Seele vererbt hätten, als ob alle Illusion der That geschwunden,
bäumten sie sich auf gegen die gewöhnliche Bezauberung; sie weigerten
sich am Lebensspiel theilzunehmen.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 18, S. 686, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-18_n0686.html)