Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 18, S. 687
Text
Diese Unfähigkeit zu leben nun diente ihnen in wunderbarer
Weise; sie schuf das Absolute ihrer künstlerischen Haltung. Niemand
war mehr als sie der reine Künstler, für den, nach Flaubert’s Definition,
»die Weltereignisse, sobald sie percipirt sind, umgesetzt erscheinen als
zu beschreibende Illusionen, so dass Alles, seine Existenz mit inbegriffen,
ihm keinen anderen Nutzen zu haben scheint.«
Von einem guten Platze des Welttheaters aus verfolgten sie auf-
merksam die Bewegungen der Personen auf der Bühne des Lebens und
wunderten sich manchmal, sich selbst dort zu sehen mit unsicheren
Geberden wie ein zweites Ich. Sie beeilten sich, diese Geberden ge-
wissenhaft aufzuzeichnen, und gewöhnlich umschreiben sie mit peinlicher
Genauigkeit die Bilder und Wandlungen ihrer Träume. Aber zumeist
enthalten sie sich vollständig jedweden Eingreifens, und da keine eigene
Rolle sie von der einzigen Beschäftigung des Sehens abbringt, entgeht
ihnen nichts von den äusseren Contouren der Ereignisse und von all
dem, was die Worte, die Bewegungen, die Eigenheiten, die Zuckungen
der Spielenden aus der Heimlichkeit der Seele und dem Innern des
Lebens lösen können. Eine hohe Rampe scheint sie vor den wilden
Thieren zu schützen, die ihre Beute erwürgen oder von den Thier-
hetzern in der Arena erdrosselt werden: daher beobachten und ver-
zeichnen sie mit peinlicher Sorgfalt, mit äusserster Treue die Scenen
schmerzlicher Ereignisse: sind es für sie nicht Modelle wie die eines
Malers? Um der geringsten Kleinigkeit willen, die zu notiren sie ver-
gessen haben, wären sie imstande, zu fordern, dass die Todten
erstehen und ihre Pose wieder aufnehmen sollten. (Bei Gavarni’s Tod:
»Es thut mir um Alles leid, was ich nicht durch eine Notiz von ihm
gerettet habe. — — Oh! Wie sehr lehrt uns der Tod, dass das Leben
Geschichte ist!«) Man hat beobachtet, dass unsere Reisen in uns sehr
genaue Vorstellungen von Landschaften zurücklassen, die wir nur einmal
und nur einige Augenblicke gesehen haben, während wir nichts von
den einzelnen Umrissen der Gegenstände wissen, mit denen uns das
tägliche Leben umgab; das Erstaunen über ein ungekanntes Schauspiel
reisst unseren Geist eben aus seiner gewöhnlichen Beschäftigung heraus
und erweckt unseren ästhetischen Sinn. Es scheint, die Goncourts, die
dem Leben immer fremd blieben, sind in dieser Welt stets auf Reisen.
Alles ist ihnen neu, Alles der Beachtung werth. Dann wissen sie auch,
»dass man für keine Sache sterben muss«. Politische Meinungen, sociale,
religiöse Ideen haben für sie nur einen repräsentativen Werth, keinerlei
vorgefasste Meinung engt sie ein, kein Vorurtheil verdunkelt die Klarheit
ihrer Gesichte. Die Nichtigkeit jeder eigennützigen Leidenschaft liess
in ihnen Raum für eine wunderbare, vollständige Unabhängigkeit, die
sie vor allen officiellen Einflüssen, selbst jedem Druck des öffentlichen
Geschmacks bewahrte. Nicht eine einzige Zeile ihres Werkes ist durch
eine andere als künstlerische Rücksicht entstanden. Gibt es ein höheres
Lob für einen Schriftsteller, als die Constatirung dieser grossen, be-
geisterten und hoheitsvollen Ehrlichkeit? Da sie nun in einem heimlichen
Winkel fern von der Handlung standen, war ihnen alles Object; das
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 18, S. 687, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-18_n0687.html)