Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 18, S. 688
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ganze Leben hatte für sie keine andere Daseinsberechtigung als die,
ein Schauspiel zu sein. Sie interessiren sich nicht für die nützliche oder
streitbare Seite der Dinge; wenigstens erschien ihnen die Fähigkeit
derselben, Handlungen zu zeugen und Folgen nach sich zu ziehen, nur
als ein sinnreicher Mechanismus, der an den Augen der Zuschauer
die verschiedensten Scenen vorüberziehen lässt. Von ihrem Ursprunge
an traten die Phänomene nur frei von jenen Banden, die sie an die
Welt des Werdens und der Causalität ketten, in ihren Geist ein, so
dass sie ihnen im lauteren Rahmen der Schönheit erschienen.
Der Process der Aneignung des Talentes. Dennoch
wurden sie in ihrem Fluge durch die mangelhafte Ausführungsgabe
gehemmt. Obgleich sie, den Leidenschaften und Handlungen fremd,
mit den Farben der Palette das blosse Aeussere der Dinge
hätten beschreiben sollen, wählten sie das Wort als Werkzeug der
Transsubstantiation der Wirklichkeit. Das Wort aber trägt doppelte
Verwendung in sich, eine künstlerische und eine rein erklärende, ja
geschäftliche. In dieser Hinsicht ist es der natürliche Dolmetsch Aller
im täglichen Verkehre; es ist gleich einer in Billionen vorhandenen
Münze in den Dienst des geistigen Austausches zwischen den Menschen
gestellt, und es ist die besondere Gabe des Schriftstellers, es in seinem
Munde von dem gewöhnlichen Metall zu unterscheiden. »Es ist ein
unleugbares Streben meiner Zeit,« hat Mallarmé gesagt, »den Doppel-
charakter des Wortes gleichsam in Anbetracht der verschiedenen An-
wendung zu trennen.« Die Goncourts hatten zu scharfe Sinne, um nicht
die Nuance sofort zu erfassen, und machten verzweifelte Versuche, ihre
Sprache zu verfeinern und ihr künstlerischen Werth zu geben.
Der Versuch Jules de Goncourt’s in dieser Hinsicht scheint un-
mittelbarer gewesen zu sein; er empfand tiefer den autonomen Werth
des Wortes, seine ausdrucksvolle Persönlichkeit, und bemühte sich, sein
Geheimniss zu entdecken. »Meiner Ansicht nach,« schrieb Edmond de
Goncourt, »ist mein Bruder an der Ausarbeitung der Form, der Aus-
meisselung des Satzes, an der Arbeit, dem Styl gestorben!« In Manette
Salomon, in Charles Demailly findet man die Spur dieser hartnäckigen
Arbeit, die sie Stunden und Tage an ihr Pult fesselte. Da sassen sie
über gemeinschaftlich geschriebenen Blättern, die sie zuerst für be-
friedigend hielten, und mühten sich verzweifelt, den Satz im Rhythmus
zu schwellen, die Worte künstlich zu beleben, sie durch Beiworte zu
verschärfen, das Unvorhergesehene der Wendungen hervorzubringen,
jene lebende Materie zu Schäften, die man Styl nennt.
Es sind wunderbare Stücke, wo das Wort quillt, wo das Bild
hervorsprudelt, sich bricht und in einem Sternenregen von Worten
herabfallt, wo die Wahl und die launenhafte Fülle der Gedanken mit
der clownartigen, bunten Munterkeit des Ausdrucks wetteifern. Die
Kenntniss der abstracten Hilfsquellen und der Bedeutungen des Wortes
ist eine vollkommene; diese Sprache tritt durch ihre Genauigkeit und
Schärfe mit mancher Prosa des XVIII. Jahrhunderts, so mit dem freien,
kampfbereiten Styl Diderot’s, Chamfort’s und Rivarol’s in Wettbewerb.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 18, S. 688, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-18_n0688.html)