Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 18, S. 689

Die Goncourts und der Kunstgedanke (Gaultier, Jules de)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 18, S. 689

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DIE GONCOURTS UND DER KUNSTGEDANKE. 689

Und dennoch wagt man nicht zu behaupten, dass aus diesen schwung-
vollen Blättern, in denen das Talent seine Blüthe erreicht, jene lebens-
volle Tonfülle weht, die die eigentliche Seele des Styls ist.

Ward nicht speciell für das Werk der Goncourts der Ausdruck
»écriture artiste« erfunden, der seither sein Glück machte? Der Aus-
druck »écriture« scheint mir ziemlich charakteristisch, weil er aus seiner
Bewerthung gerade die Klangeigenschaften des Wortes ausschliesst und
gewissermassen nur seinen algebraischen Werth ins Auge fasst. Aber
der Werth des Wortes als Kunstelement ist gerade in seiner Klang-
eigenschaft gelegen, geradeso wie ein Ton der Malerpalette in der
Malerei als Farbe seinen Werth hat, so dass die Goncourts das Künst-
lerische ihres Styls nur ihrer vollkommenen Haltung verdanken, durch
die sie von dem Leben nur die Einzelheiten sehen und beschreiben,
die einen repräsentativen Werth haben, von einer Scene der sichtbaren
Welt zum Beispiel alle jene Einzelheiten, ja nur jene, die auch das
Auge eines Malers fesseln würden. Daher wird ihr Werk auch durch
die einer anderen Kunst entlehnte Atmosphäre zur Geltung gebracht,
einer Kunst, mit der es sich stetig umgibt, und nicht so sehr durch
seine ihm innewohnenden Eigenschaften. Das Bestreben, diese Haltung
den Dingen gegenüber auszudrücken, ist Edmond de Goncourt’s Auf-
gabe gewesen; die Betonung gewisser Formeln in den letzten Werken
könnte Zeugniss davon ablegen. Es erscheinen aber auch ähnliche Vor-
gänge schon in den ersten Romanen: sie bestehen in gewissen Wen-
dungen und Wiederholungen, gewissen Biegungen des Satzes, in der
Erfindung stylistischer Mittel, welche geeignet sind, die wirklichen Dinge
und ihre repräsentative Kraft, ihre künstlerische Sichtbarkeit zu be-
fürchten, in dem Schaffen eines peinlich genauen Handwerkszeuges,
welches das Aeussere, die Bewegungen, Geberden und Tonmodulationen
aufzunehmen hat, durch deren Beigabe sich der mündliche Ausdruck
der Gedanken und Gefühle vervollkommt. In dieser Hinsicht waren
die Goncourts Schöpfer einer neuen Methode, Begründer einer Schule,
auf deren Bänken lernbegierig fast alle unsere Romanschreiber sassen,
die in den letzten zwanzig Jahren zur Bedeutung kamen.

Sicherlich diente den beiden Schriftstellern die bereits constatirte
Lebensunfähigkeit in der Erfüllung ihrer Aufgabe: daraus, dass sie
den gewöhnlichen Bestrebungen und Gefühlen des Lebens unzugänglich
waren, ergab sich, dass ihre Thatkraft keine andere Verwendung haben
konnte, als die: Wahrnehmungen auszudrücken, und so ward sie rück-
haltlos in den Dienst der technischen Arbeit künstlerischer Reproduc-
tion gestellt. Aber die ursprüngliche Talentsarmuth gibt sich in dem
ausserordentlichen Kraftaufwand kund, der an die Erwerbung des Ta-
lentes verschwendet wurde, in dem Tod des jüngeren der beiden
Brüder, der gewiss die wunderbarsten Anstrengungen machte, die Puppe
von ihrer Hülle zu befreien und die widerspenstigen Worte zur Reise
in den Kunsthimmel zu beflügeln; sie gibt sich auch kund in Edmond
de Goncourt’s Geständnissen von Müdigkeit und Erschlaffung, in der
Klage, die die vertraulichen Mittheilungen des »Journals« durchzieht.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 18, S. 689, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-18_n0689.html)