Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 18, S. 690
Text
Unter Anderem sei Folgendes angeführt: »An jedem Tag, an dem ich
mich an meinen Arbeitstisch setze und mir sage: Also, nun muss ich
meinem Hirn wieder ein Capitel entreissen! — habe ich die schmerz-
liche Empfindung eines Mannes, von dem man täglich ein wenig Blut
zur Ueberleitung in einen anderen Körper verlangen würde.« An anderer
Stelle finden wir die Aufzeichnungen über die pathologischen Zustände,
welche die beiden Brüder herbeizuführen suchten, um das Talent zu
erwecken: »Man muss Fieber haben, um gut zu arbeiten, und das
verzehrt und tödtet uns — — — Mit Peitschenhieben jagt man seine
Gedanken in die Rennbahn; man sucht die schlaflosen Stunden, um
die Vortheile der Fiebernächte zu geniessen; man spannt bis zum
Aeussersten alle Saiten des Hirns über eine einzige Gedankenreihe.«
Das Werk. Dennoch ward nach vielen Kasteiungen, nach einem
Leben klösterlicher Abgeschiedenheit, glühender Inbrunst und harter
geistiger Zucht ihre fanatisch dargebrachte Opfergabe von dem Götzen
angenommen; sie gelangten dazu, sich ein Werkzeug der Kunst zu
schmieden, und begannen, das Leben in Kunst umzusetzen. Ihre Lebens-
unfähigkeit, die ihnen den Beruf zuwies, und ihre contemplative Haltung
zogen die verschiedensten Folgen nach sich, nützten und schadeten
ihnen abwechselnd bei der künstlerischen Wiedergabe ihrer Vorbilder.
Die Wahl des Wortes als Baumaterial verdammte sie dazu, Scenen aus
der sittlichen Welt wiederzugeben; diese Scenen aber kann man von
aussen nur sehr unvollkommen beobachten. Wenn es möglich ist, ge-
wisse Geberden der Leidenschaft, der Worte, des Mienenspiels getreu
aufzuzeichnen, so kann andererseits die Leidenschaft in ihrem Kern-
punkt nur nach sich selbst festgehalten werden. Nur wenn man sie
empfunden oder in seiner Macht gehabt hat, kann man sie in ihrem
Entstehen wiedergeben, nur dann hat man das stets gegenwärtige Vor-
bild, nach dessen Linien die von aussen hinzugefügten Details am
richtigen Platze und im richtigen Raumverhältnisse vertheilt werden
können. Die Loslösung der Goncourts vom Leben hatte den zeit-
weiligen Mangel dieses inneren Führers bei ihnen zur Folge: daher
erhält man von einigen ihrer Werke den Eindruck von Mosaikbildern,
deren seltsam ausgewählte Steine — künstlerisch durch tägliche
Beobachtungen zusammengetragene Documente — nicht am richtigen
Platze angebracht sind. Renée Mauperin, Denoisel sind uns etwas all-
gemein gehaltene Salonmenschen; ihre äussere Haltung, einige launische
Einfälle und ihr Mienenspiel machen ihr Antlitz aus; aber unter der
peinlichen Mosaikarbeit, der sie ihr Entstehen verdanken, fehlt das
tiefe Leben, das sie in eine Atmosphäre der Menschlichkeit versetzt
hätte. Erhalten wir nicht einen ähnlichen, ja noch kälteren Eindruck
von Mme. Gervaisais während der ganzen ersten Hälfte des Buches?
So fahl und ungreifbar erscheint sie uns unter all den Museen, auf
der Schwelle der Kirchen, die einen willkommenen Vorwand zur Be-
schreibung von Ceremonien, Fresken und Gemälden bieten, dass nur
das physische Leiden, welches sich in den letzten Capiteln als morali-
scher Schmerz kundgibt, der Heldin den Schimmer einer Persönlich-
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 18, S. 690, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-18_n0690.html)