Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 18, S. 691
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keit — einer pathologischen Persönlichkeit — gibt. Glücklicherweise
blieben in dem Leben der Goncourts inmitten ihrer allgemeinen Ver-
zichtleistung zwei Empfindungen intensiv; diese erweckten ihre Mensch-
lichkeit und schufen in ihnen ein inneres Vorbild, dessen Linien sie
mit jener mächtigen Beobachtungsgabe und jenem seltenen Scharfblick
wiedergaben, welche durch ihre durchaus contemplative Haltung zur
höchsten Entwicklung gelangt waren. Aus diesem glücklichen Zu-
sammentreffen ihres auf dem Höhepunkt stehenden Talentes und dem
plötzlichen Erwachen ihrer galvanisirten Sensibilität entstanden wunder-
bare Seiten und ein lauteres Kunstwerk der dramatischen Kunst aller
Zeiten, Germinie Lacerteux.
Die eine dieser Empfindungen, die stets erneut hervorsprudelt,
war ihre Leidenschaft zur Schriftstellerei, deren naives Geständniss sich
an unzähligen Stellen des »Journals« findet. Durch sie erkannten sie
intuitiv jenen natürlichen Conflict zwischen dem Weibe als Ferment
der Thätigkeiten und dem ästhetischen Sinn, dem reinen Intellectualis-
mus, der das Princip der Verneinung des Lebenswillens bedeutet. Nur
der Mann tritt der »Idee« durch das directe Verständniss näher; die Freude
der Contemplation ersetzt ihm den Vortheil, den man gemeiniglich aus den
Dingen zieht; sie macht ihn uninteressirt, weil sie ihn eben interesselos lässt.
Die Frau gewinnt aus der ästhetischen Contemplation nicht diesen
directen Genuss: die Liebe ist für sie das einzige Princip der Uneigen-
nützigkeit. Daher finden wir in Charles Demailly und in Manette
Salomon den auffallenden Antagonismus zwischen dem Intellectualismus
des Schriftstellers oder Malers und der prosaischen Kampfesfreudigkeit
der Frau, der Frau, die durch die Liebe nicht erhöht wird. Wie in
der antiken Tragödie wird das Drama in dem Personenconflict edler
durch das Hinzutreten der eigentlichen Lebensmächte. Hinter den Ge-
berden und Worten Marthas und Charles Demailly’s prallen in un-
bewusster Brutalität die Gegensätze der beiden Principien hart anein-
ander; und in Manette erscheint dieses Drama, weil einfacher, viel-
leicht noch bedeutender. Martha ist eine egoistische, gewaltthätige,
trockene und willkürliche Natur. Die kleine Komödiantin erhebt in dem
Kampf der Elemente ihre kreischende Stimme und glaubt für sich
einzustehen, Manette hingegen scheint eine aus sich heraus handelnde
sichere Naturkraft; sie handelt ohne bestimmtes Ziel, wirkt nur durch
ihre Gegenwart; sie entwischt den Grimassen der Persönlichkeit; je
nach den Phasen ihrer Entwicklung erstehen Kräfte in ihr, fördern
ihre Handlungen zu Tage nach zuerst specifischen Gesetzen, in denen
sie zur weiblichen Passivität in der Liebe hinneigt, dann nach atavisti-
schen, die sie zu den alten Ränken ihrer Race zwingen; abwechselnd
entströmt ihr der siegreiche Duft der Wollust und ein feines Aroma,
das die Atmosphäre um sie her verändert und auf jede Gedanken-
arbeit tödtlich wirkt.
Die Goncourts hüteten sich vor Marthas und Manetten; aber die
Angst, die sie vor ihnen hatten, setzte sich in ein lebendiges, drohendes
Gespenst um, dessen bewegliche Form sie in Worten wiedergaben.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 18, S. 691, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-18_n0691.html)