Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 18, S. 692

Die Goncourts und der Kunstgedanke (Gaultier, Jules de)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 18, S. 692

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692 GAULTIER.

Einige vibrirende Seiten des »Journals« haben uns die andere
Quelle reicher Empfindung enthüllt, aus der ihnen, aus den Tiefen
menschlicher Seele hervorsprudelnd, neue tragische Welten kamen. Die
bei dem Tod ihrer alten Dienerin stattfindende Offenbarung der ge-
heimen Existenz des armen Mädchens durchtheilte wie ein zackiger
Blitz den Abgrund der Finsterniss, in dem sich die armen mensch-
lichen Seelen winden, mit unzusammenhängenden Motiven für ihre
Handlungen, ein Spielball der widerspruchvollsten Stösse der Instincte,
Gefühle und Sittlichkeitsgebote gleich jenen Fetzen, die ein böser Wind
nach Willkür vor sich hertreibt. Das Phänomen erschien ihnen unver-
ändert in seiner ganzen gesetzmässigen Grausamkeit. Sie zweifelten
nicht an dem Seelenadel des menschlichen Geschöpfes, auch nicht an
der Vollkommenheit seines Herzens; ihre Sensibilität leitete sie zu
richtig; in dieser Hinsicht hatten sie Gewissheit: deshalb mussten sie
auch, um die gähnende Kluft zwischen dem ursprünglichen Adel und
der Niedrigkeit der Handlungen auszufüllen, den physiologischen
Mangel, den Sohn des Fatums, in den Gehirncentren annehmen, der
nur ungenügend durch die Erziehung ausgeglichen wird, und mussten so
künstlich die sittliche Persönlichkeit zusammenzustellen, in der sich
herrisch und unvermeidlich das Fatum erhebt. Die Greuel dieses ungleichen
Kampfes wurden uns zuerst im Roman mit seltener Genauigkeit der Details,
dann auf der Bühne in wunderbar kunstvoller Verkürzung und einer
bis dahin ungekannten Schönheit und Wahrheit der dramatischen
Sprache vorgeführt, in jener Atmosphäre hoher Menschlichkeit, die
dem Werke ewige Dauer sichert; denn unter der Leinenschürze der
Dienerin rauschen die Falten von Phädra’s Peplum.

Hypertrophie des künstlerischen Sinnes. Das genügt
für den Ruhm: in Germinie und einigen Capiteln aus Manette
und Charles Demailly haben die Goncourts unbewusst ihren Traum
verwirklicht. Hier symbolisiren sie den schmerzlichen Sieg und
die Wirksamkeit jener Hypnose, der es gelingt, Wesen ohne Thaten-
freudigkeit in den Dienst der künstlerischen Production zu stellen.
Aber diese Studie wäre unvollkommen, wenn wir nicht neben diesem
siegreichen Resultat auch die der Kunst selbst unheilvollen Folgen
zeigten, die diese Lebensunfähigkeit nach sich zieht. Wenn sie in
den Anfängen dazu beigetragen hat, die ästhetische Haltung der
beiden Künstler zu bilden, so beschränkt sie in der Folge, da sie
stets wächst, die Zahl der zwischen ihnen und der Wirklichkeit mög-
lichen Beziehungen und verkleinert ihr geistiges Sehfeld. Ich habe schon
die einzelnen schwachen Stellen in den Romanen erwähnt; aber in
dem Werke des letzten der beiden Brüder, in den Bänden des »Journal«
nach 1870 scheint diese Tendenz vollständig zur Herrschaft gekommen
zu sein und sich in contemplativer Haltung in einem heimlichen Winkel
abseits vom Leben selbst zu idealisiren.

Sei es, dass Jules de Goncourt bei dem intimen Zusammenarbeiten
in Besonderheit den Beitrag jener Lebensdosis geleistet hätte, die für
die künstlerischen Schöpfungen unerlässlich ist, sei es, dass der äusserste

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 18, S. 692, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-18_n0692.html)