Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 18, S. 693

Die Goncourts und der Kunstgedanke (Gaultier, Jules de)

Zum TEI/XML Dokument

Faksimile

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 18, S. 693

Text

DIE GONCOURTS UND DER KUNSTGEDANKE. 693

Trennungsschmerz bei dem älteren Bruder die Quelle menschlicher
Empfindsamkeit versiegen liess — eines steht fest: Edmond flüchtete
sich für immer in einen Beobachtungswinkel abseits vom Leben, und
anstatt es zu fühlen und in sich selbst rauschen zu hören, lernte er es
von da ab nur mehr durch die Kundgebungen bei Anderen kennen.

Die Nachtheile dieser Haltung spiegeln sich im Werke wieder:
es bleibt immer künstlerisch; aber mit dem vollständigem Abhanden-
kommen des Lebenssinnes verblasst auch der Sinn für die Proportionen
zwischen den Ereignissen, Leidenschaften, Sensationen und Berührungs-
linien. Die Bücher scheinen keinen anderen Zweck mehr zu haben, als
eine Notizensammlung zu bieten und durch kleine Uebergänge die Be-
obachtungen eines oder mehrerer Jahre zu verbinden. Und während in
den Vordergrund der Composition alle jene Details der Moderne treten,
die das flüchtige Bild einer Epoche bilden und kennzeichnen, fehlt dem
Werke das intensive und tiefe Leben der Personen, und die Charaktere
besonderer Menschlichkeit erbleichen.

Die äussersten Folgen dieser Tendenz zeigen sich noch augen-
fälliger in den Notizen des »Journal«, namentlich in den Bänden, die
die Ereignisse des Krieges und der »Commune« berichten; nichts ist
charakteristischer als dieser Abzug eines grossen Geistes, in dem die
Sehfähigkeit einzig und allein, zum Schaden aller Uebrigen, hypertrophirt
ist. Um ihn herum entrollt sich das Schauspiel zweier Belagerungen:
man fühlt, wie unbehaglich ihm ist, wie er sich überflüssig vorkommt
inmitten der Thaten. Welche Haltung annehmen? Was denken? Was
thun? Unwillkürlich denkt man an die beiden Helden Flaubert’s, die
im Louvre versuchen, sich für Raphael zu begeistern, und sich Notizen
im arabischen Curs des »Collège de France« machen. Mit Sorgfalt und
äusserster Gewissenhaftigkeit sammelt Edmond de Goncourt den Ge-
danken, die Eindrücke der Andern, der Literaten, der Bürger, des
Volkes. »Pélagie,« constatirt er, »rühmt sich, keinerlei Furcht zuhaben,
und erklärt, dass es ihr wie ein Zinnsoldatenkrieg vorkommt. Wirklich
ist die fürchterliche Kanonade von heute Früh nichts Anderes als, wie
sie sagte, das Geräusch von Teppichklopfen.« Vergebens bemüht er sich
theilzunehmen, persönliche Eindrücke zu empfinden. Er bleibt in einem
fernen Winkel an seinen Beobachtungspunkt geschmiedet: er befragt die
lebensvolle Strasse, wie er einen Stich aus dem XVIII. Jahrhundert
prüfen würde. Von dieser Entfernung aus stehen für ihn die äusseren
Formen und die tragischen Kundgebungen der Bethätigung in derselben
Linie; daher hat bei ihm die Beschreibung einer Pallisade, eines Linien-
walles dieselbe Plastik und dieselbe Bedeutung als die Erzählung irgend
einer rührenden Episode. Allen diesen noch zuckenden, im Entstehen
begriffenen Wirklichkeiten gegenüber bewahrt Edmond de Goncourt
die Haltung eines Dilettanten vor einem Gemälde, an dessen Anord-
nung nichts geändert werden kann. Welchem Ereigniss immer er sich
beigemengt findet, er untersagt sich stets peinlich jedweden Eingriff,
aus Furcht davor, vor seinem Auge den Lauf des Phänomens zu
stören.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 18, S. 693, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-18_n0693.html)