Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 18, S. 694

Die Goncourts und der Kunstgedanke (Gaultier, Jules de)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 18, S. 694

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694 GAULTIER.

Von seinem Haus in Auteuil begibt er sich nach Montmartre
nach La Chapelle; er fährt mit der Gürtelbahn um Paris herum, dringt
in die Ambulanzen ein, geht durch bewaffnete Reihen in die Lager
und ist stets eifrig bemüht, seine Rolle als »Beschauer« zu spielen. Be-
siegte Zuaven kommen nach Paris zurück: er beschreibt den Schreck,
der sich in ihren Worten und ihren hohlen Zügen malt, dann bemerkt
er alsogleich ein »hübsches Bildchen am Thor von Neuilly«: einen Karren,
der den Umzug einer Vorstadtfamilie besorgen soll, und auf einem
Haufen gebrechlicher Möbel ein schlafendes Mädchen.

»Ueberall der Krieg — — — Und jeden Augenblick die reizend-
sten Motive für den Maler.« Der Künstler kann sein Bedauern nicht
verhalten vor »den lebhaften farbigen Bildern, die die Belagerung aller-
orts in Paris zusammenstellt: Bilder, die die Malerei zu malen ver-
gessen wird oder die von einem Millevoye des Pinsels, wie Protais,
versentimentalisirt werden«. Alles ist ihm Bild, bewegliches Bild, das er
neugierig in all seinen Formen betrachtet.

Aber ein ganzer Theil des Lebens entgeht dem Blick des Be-
obachters; die Netzhaut des Malers bildet einen Lichtschirm zwischen
ihm und der Wirklichkeit in ihrer packendsten Form. Edmond de Gon-
court gleicht jenem geschickten Handwerker des Islam, der, in den
heiligen Krieg ziehend und nur für seine Kunst begeistert, in dem
Blut des Kampfes und des wunden Fleisches nichts Anderes sehen
würde als Farbenmodelle für die Schattirungen in den Arabesken seiner
Gebetteppiche. Das Werk des Schriftstellers ist dadurch geringer: die
Worte, deren Zweck es ist, die Malerpalette zu ersetzen, vernachlässigen
so ihre wahre Aufgabe, die Rangordnung der Werthe ist auf den Kopf
gestellt, das Leben kreist nicht mehr in dem aderreichen Gewebe der
Sätze, das Decorum verbirgt die Handlung. — — —

Wir mussten wohl diese Schwächen im Werke der Goncourts er-
wähnen; denn sie sind charakteristisch für die Kunstform, die die beiden
Brüder vertreten. Indem wir sie constatiren, erkennen wir das in dem
Werke enthaltene Princip der Selbsttödtung. Sie zeigen uns wieder,
dass die Möglichkeit irgend einer Wiedergabe auch nothwendigerweise
gemeinschaftliche Beziehungen zwischen dem dargestellten Object und
der darstellenden, percipirenden Persönlichkeit erheischt. Das Leben
allein kann in Beziehung zum Leben treten; daher stammt der Mangel
dieser Kunstform, die in ihrer Blutlosigkeit eine Entschuldigung zu haben
glaubt. Wenn wir sie der Schönheit ihrer Bemühungen halber geehrt
haben, müssen wir ihr auch gerechterweise ihren Platz anweisen, indem
wir ihr die geniale Kunst, die überschwengliche Tochter der Lebens-
freude, von der sie ihre Abkunft herleitet, entgegenstellen. Denn wir,
die Tributpflichtigen dieser Perioden der Anämie, wir können nichts
Anderes thun, als den Mangel an Thatkraft durch äusserstes Verständ-
niss ersetzen: unsere Bewunderung hat nicht das Recht, zu irren. So
entnüchtert wir auch von den Thaten, so bezaubert wir vom Kunst-
werke sind, dürfen wir selbst im Interesse unserer Leidenschaft nicht
vergessen, dass die Kunst sich auf das Leben stützt. Dann wird unsere

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 18, S. 694, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-18_n0694.html)