Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 19, S. 722

Maurice Maeterlinck (Bornstein, Dr. Paul)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 19, S. 722

Text

MAURICE MAETERLINCK.
Von Dr. Paul Bornstein (Berlin).

Schwüles, schweres Dunkel. — Verworren, eine schwarze Masse,
starren die Kronen der Bäume ringsher. Aus blühenden Gärten steigt
der helle Duft der purpurnen Rosen; seltsam, gleich winkenden Händen,
Todtenhänden, schimmern die weissen, jähen Lilien in der unbestimmten
Finsterniss. Und tiefes Schweigen über der Runde. Nur eine Nachtigall,
wohl aus dem Schlummer erwacht, singt ihr träumendes Lied — ein-
sam, in suchender Sehnsucht, in bebender Süsse wallen die Töne und
wandeln durch die Stille; so wandelt eine irrende Seele ruhlos durch
den Frieden der Nacht. Und sie verhallen in leiser Klage. Hinter
dunklen Wolken steht der Mond; in irren Reflexen, bald hier, bald
dort aufblitzend, huscht sein müdes, bleiches, räthselvolles Licht. Fern,
unendlich fern nur schimmert ein blasser Stern — ist’s nicht, als ob
die Geister unserer Todten von ihm herniedergrüssten? In ver-
schwimmenden Contouren entkörpert steht alles Körperliche; durch-
geistigt erscheint das All. Perspectiven der Ewigkeit thun sich auf.
Hörst du den tiefen Athem der heiligen Nacht? Fühlt schauernd dein
Herz den Hauch der Fernen, fühlt es das Weben geheimnissvoller Un-
endlichkeiten, in denen Vergangenheit und Zukunft verfliesst, Leben und
Tod sich zum Bunde die Hand reichen? Erwacht deine Seele vom
dumpfen Schlummer des Alltags, ahnt sie ihre eigenen Tiefen und
erkennt sich in ihrer Unendlichkeit? Siehe, sagt die unendliche Natur,
das bist du. Du bist mehr, o Mensch, denn du dir träumen lassest im
grellen Getriebe und dem Lichte des Tages, das kein Erbarmen kennt.
Tief ist deine Seele, ewig und unendlich gleich mir; Perlen trägt sie
an ihrem Grunde. Willst du sie haben? Gehe denn, schaue in dich —
steige hinab in die Tiefen deiner Seele. Erkenne dich selbst!

Es ist einer unter den jungen Poeten, der hat sich erkannt
in seinen Höhen und Tiefen, der ist hinabgestiegen bis auf den
Grund der Seele und brachte uns von den köstlichen Perlen. Still ist
seine Poesie und tief und geheimnissvoll wie die dunkle Sommernacht;
voll Mondenlicht und Nachtigallensang ist sie und auch so duftdurch-
haucht und schwül und traurig süss. Der Hauch des Geheimnisses
liegt über ihr und der Schatten seltener Erkenntniss und der müde
Friede, der doch nur friedlose Sehnsucht ist.

Fern und seltsam klingt dieses Poeten Stimme. Nicht Alle verstehen
sie. Wann hätte die Menge den Einsamen verstanden? Wann ihn, den Un-
verstandenen, nicht beschimpft und verhöhnt — den weissen Raben?
Aber die ihn verstehen, müssen ihn lieben, denn sie fühlen ihn sich
nahe, nahe in den Weihestunden des Lebens, da die Seele ihre Aufer-

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 19, S. 722, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-19_n0722.html)