Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 19, S. 728
Text
von Jakob Wassermann (München).
In einer stillen Sommernacht
Bin ich aus heiterem Traum erwacht.
Und plötzlich, in einen schwarzen Schlund,
Sah ich hinab auf des Lebens Grund.
Sag’ mir an, du trübes Gespenst,
Was du Wissen und Leiden nennst?
Sag’ mir, ruhige Finsterniss,
Warum Gott seinen Sohn verliess?
Sprich, du Himmel ohne Gnaden,
Weshalb hat mich der Freund verraten?
O sprich, du lange Einsamkeit:
Was ist Tod und was ist Zeit?
Da begann das trübe Gespenst:
Was du Wissen und Leiden nennst,
Das ist Kraft eines deutlichen Traumes,
Das ist Spiel jenes bunten Saumes,
Saum vom Kleide der Ewigkeit,
Kraft eines langerloschenen Lichts
Dies ist Wissen, dies ist Leid,
Und sonst nichts.
Sprach die ruhige Finsterniss:
Warum Gott seinen Sohn verliess,
Das ist kraft seiner Lust zur Freude,
Das ist Kampfspiel, das stets erneute
Hangen und Bangen am Lebensbaum.
Gott wünschte einen Sohn des Lichts,
Seine Vaterliebe, sie ist ein Traum,
Und sonst nichts.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 19, S. 728, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-19_n0728.html)