Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 19, S. 730
Text
Von Lionel Maurès (Paris).
Wie tief hier die Kunst ins Volk gedrungen ist, hat mir ein Vor-
gang am Tage des Vernissage im »Salon des Indépendants« aufs Neue
gezeigt.
Vor dem Eintritt fragte einer der Herren meiner Begleitung einen
ihm bekannten jungen Mann, welcher eben die Ausstellung verliess, ob
dieselbe ihm gefallen habe; »man kann einzelnes Gute finden,« lautete
die Antwort.
Auf meine Frage hin, wer der Junge gewesen sei, antwortete
mein Freund, »er hat drei Bilder ausgestellt, er ist der Gehilfe meines
Friseurs«.
In diesem Salon waren eine Reihe von Bildern des Norwegers
Eduard Munch und Originallithographien von Toulouse Lautrec wohl
die einzigen ersten Ranges.
Ueber Munch sollte man eigentlich nur schreiben, wenn ganze
Spalten zur Verfügung stehen, seine schmerzvolle, nordisch barbarische
Einfachheit, die ergreifende Vibration, verbunden mit der Gewalt seines
Könnens, der Grosse seiner Auffassung der Linie und der brutalen
Macht seiner Farbe, stellen ihn so weit ausserhalb der gefallsüchtigen
Malermenge, dass man es den Beschauern, welche doch fast alle an
seichte Waare und Zuckergebäck gewöhnt werden, nicht verübeln kann,
wenn ihnen solche herbe reine Kost nicht mundet.
Auf Toulouse Lautrec komme ich noch später zu sprechen.
Es ist in Paris selten geworden, künstlerischen Sondererscheinungen
in den jährlichen Ausstellungen zu begegnen.
Künstler wie Odilon Redon, Degas, Renoir Claude Monet, Lisley,
Pizzaro, Rops, Armand Point halten sich von den grossen Sammel-
punkten ferne, denn dieselben sind zu einer beklagenswerthen Mittel-
mässigkeit herabgesunken.
Viel Können, viel Arbeit, grossartige Mache, aber wenig, sehr
wenig Seele. Das schöne fiebernde Leben, die Gluth der Sinne, die
Flammen der Leidenschaften, der heilige Schauer des Schöpfers sind er-
storben, und an ihre Stelle traten die Berechnung, laue Gefühlsregungen,
krankhafte Nervenreize, das seichte Gewinsel über die Schmerzen des
Daseins.
Der aus der Seele quellende Zwang zu zeugen, jenes heilige Muss,
von dem man nicht weiss, von wannen es kommt und warum es von
uns geht, haben diese Arbeiter nie empfunden.
Sie malen Bilder, weil sie Maler sind, wie sie Stiefel machen
würden, wären sie Schuster geworden; sie gebären Undinge, welche
zu den Fabriksmöbeln und Schablonenhäusern passen, und erfüllen
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 19, S. 730, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-19_n0730.html)