Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 19, S. 733
Text
Von Carl Bleibtreu (Wilmersdorf bei Berlin).
(Fortsetzung.)
Dass mit diesem Begriff der Napoleon-Charakter sich keineswegs
decke, spricht auch der preussische Militärschriftsteller Graf York unum-
wunden aus, obschon auch seine vorgefasste Tendenz, ein Sinken des
Feldherrengenies seit 1805 aus den sehr anderslautenden Thatsachen
herauszuquetschen, von uns heftig befehdet werden musste. Der Gleiche
entschuldigt auch die Niederschiessung der 2000 türkischen Gefangenen
in Jaffa als eine berechtigte, ja gebotene Rücksicht auf Erhaltung der
eigenen Armee. Und dabei hat er noch nicht mal klar genug die
Umstände beleuchtet. Nach Kriegsrecht nämlich hätte Alles über die
Klinge springen sollen, weil die Türken den Parlamentär in Stücke
gehackt hatten, und nur Bonaparte’s Abscheu vor solchen Blutbädern
that dem Gemetzel in der erstürmten Stadt Einhalt. Aber indem er
die auf Gnade und Ungnade Capitulirenden seinen wüthenden Soldaten
entriss, bescheerte er sich ein paar tausend Mäuler, die er nicht
ernähren konnte. Sollten statt dieser viehischen Barbaren etwa ebenso-
viele seiner ihm anvertrauten Franzosen Hungers sterben? Sollte er die
Parlamentärmörder etwa zum Hungertod verdammen? Oder sollte er
sie entlassen, damit sie, wie schon mehrfach trotz Koran-Eiden geschehen
war, nur wieder zu den Waffen griffen? Drei Tage lang währte gleich-
wohl Bonaparte’s Seelenkampf, da er voraussah, wie schulmeisterliche
Geschichtschreibung ihn damit belasten würde.
Als er sich im Zelte einschloss und dann kaltblütig das grosse
Morden befahl, hatte er den Fall mit sich selber abgemacht und war
mit sich einig, dass er nur einem Gebote der höheren Moral folge.
Abgeschmacktes Geschwätz wird daran nichts ändern, ebensowenig an
der Vergiftung der Pestkranken in Jaffa, die ein anderes Steckenpferd
der Napoleon-Schwärzer bildet. Längst ist von ärztlichen Augenzeugen
officiell nachgewiesen, dass nur drei Unheilbare durch starke Opium-
dosis schmerzlos erlöst wurden. Wären aber Hunderte so ins Jenseits
befördert, so entzog man sie nur dem Martertode durch verfolgende
Türken. Viel richtiger wäre es, den Heldenmuth Bonaparte’s zu betonen,
der in Person das Pesthospital durchschritt, um alle, die noch Kraft
dazu hätten, zum Aufbruch anzutreiben.1) Und als bei dem unerhörten
1) So ritt er auch an der Beresina die ganze Nacht bei 12 Grad Kälte
umher, um die Waffenlosen zum Uebergang aufzumuntern, und führte deshalb
den Kampf einen ganzen Tag länger, wo jede Minute kostbar für seine Rettung
war und jeder Feldherr den elenden Ballast über Bord geworfen hätte! Bekanntlich
ruhte er nicht mit unaufhörlicher Sorgfalt für die Hospitäler, bis ihm nicht Larrey
die Ambulanzwägen erfand, und machte die Aerzte zu Reichsbaronen.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 19, S. 733, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-19_n0733.html)