Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 19, S. 732
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selben Gefühlswege zu gehen, welche sein Schöpfer gegangen ist; des-
halb blieben diese Werke stumm.
Da ist es denn sehr interessant, zu beobachten, dass viele von
ihnen in Erkenntniss ihrer Schwäche das ihnen Fehlende dort suchen,
wo es am kräftigsten lebt, bei den Primitiven; in Nachahmung der-
selben sich verlierend, zeugen sie scheinbar vollwertigere Waare, in
Wirklichkeit aber gehen sie in die Fremde und verlieren mit der Heimat-
erde den letzten Rest echten Werthes.
Diese zweite Ausgabe der Präraphaeliten wird bei der mächtigen
Strömung des wachsenden Bedürfnisses nach Neuem nicht lange andauern.
Anders verhält es sich mit der viel kleineren Künstleranzahl,
welche, aus den Symbolikern sich entwickelnd, zur metaphysischen
Weltanschauung durchgedrungen ist.
Ihre Kunst, geboren nach einer langen Reihe von schweren
Seelenkämpfen und Leidenstagen, kann nur gedeihen bei Menschen
höherer Gattung, deren grösste Sorge sein muss, für jede Art von
Eindrücken sich empfänglich zu erhalten, die grossen Lücken unseres
Verstehens ahnend auszufüllen und im künstlerischen Schaffen keine
festgestellten Lehren und Gesetze hemmend zwischen den befehlenden
Geist und die gehorchende Hand treten zu lassen.
Der Gewaltige, dem die Geister zu dienen scheinen, der un-
bekümmert um Ruhm und Geld und um des Volkes Urtheil seinen
Visionen nie gekannte Form gibt, ist Odilo Redon.
63 Jahre hindurch unbeirrt stets denselben sorgenbegrenzten Pfad
wandelnd, hat es Redon dennoch zu einem Kreis von Bewunderern
gebracht, welcher indess kaum einige Hunderte umfassen wird.
Seine Radirungen und Lithographien sind von unheimlich mysti-
scher Macht, ihm gelingt es, durch eine schwarze Fläche das ganze
Grausen heraufzubeschwören, in welchem man beim Lesen von Bulwer
Lytton’s Novelle »La maison hautée« erschauert.
Auch die Bilder O. Redon’s haben jenen magischen Zauber,
den fremdartige weltverlorene Geister ausüben, so uns ihr Auge
trifft Sein Gegenstück ist Toulouse Lautrec.
Er zieht die Fehler der Frauen, die Schwächen der Männer un-
barmherzig ans Licht, er gestaltet sie in wenigen Linien durch Um-
formung der Grössenverhältnisse und Verzerrung körperlichen Eben-
masses mit so beissendem Hohne zu Zerrbildern ganzer Volksschichten,
dass man wohl seine Freude an ihm haben kann, ihn aber nicht ins
Herz schliesst wie Willette, den Zeichner der Anmuth und der Neckerei,
welcher indess auch bisweilen die Keule mit kräftiger Faust schlug, wo
der Kampf am heissesten war.
Bei Willette sollten unsere jungen Zeichner lernen, dass Jauchzen
und Zürnen, Lust, Leid und Hass gleich kräftig und lebensprühend
einer Quelle entströmen können, dass eine traurige Maske allein kein
Mitleid, eine grinsende kein Lachen zeugt, sondern dass die Hand zu
weisen hat, was die Seele bewegt.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 19, S. 732, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-19_n0732.html)